Fäuste für die Revolution

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22.07.2012 11:41 Uhr

NZZ am Sonntag vom 22. Juli 2012

In Kuba ist Boxen ein Volkssport. Kinder werden schon früh ausgesucht und von Trainern gefördert, die aus dem Wissen aller anderen Länder eine eigene Lehre geformt haben.


Von Knut Henkel

Kuba heisst die erfolgreichste olympische Boxnation der jüngeren Vergangenheit. Nach einigen Rückschlägen in den Jahren 2006 bis 2008 will Coach Rolando Acebal nun wieder zur Dominanz von einst finden. Die junge Staffel muss sich jedoch auf starke Konkurrenz einstellen - nicht nur aus Osteuropa.

Félix Savón ist zuversichtlich. Vier bis fünf Titel traut er der jungen kubanischen Boxstaffel an den Spielen in London zu. Anknüpfen an die grossen Erfolge der 1990er Jahre werde die Staffel, prognostiziert der dreimalige Olympiasieger im Schwergewicht. Savón, mittlerweile 44 Jahre alt, muss es wissen, denn er hat regelmässig im Trainingscamp von Wajay, im Süden Havannas, zu tun. Dort, nur ein paar Kilometer vom Airport Havannas entfernt, befindet sich die Finca Horbeín Quesada, wo die besten Boxer der Insel trainieren. Hier schlägt seit den 1960er Jahren das Herz des kubanischen Boxsports. In der grossen Halle gibt es drei Boxringe und eine ganz Batterie von Sandsäcken, aber auch einen Kraftraum, wo mit Stahlstangen oder Baseballkeulen auf alte LKW-Reifen eingedroschen wird und rostige Gewichte gestemmt werden. Hier haben Ausnahmeboxer wie Teófilo Stevenson, Félix Savón oder der so elegante Mario Kindelán ihren letzten Schliff erhalten.

Eine radikale Umstellung

Diese Namen stehen für die kubanische Boxschule, die erst nach der Revolution von 1959 aufgebaut wurde. Mit der Machtübernahme der Bärtigen um Fidel Castro war quasi über Nacht Schluss mit dem Profisport auf der Insel. Legendäre Champions wie Kid Chocolate, Profiweltmeister zu Beginn der 1930er Jahre und danach Trainer in Havanna, mussten sich umstellen. Der Blick ging nicht mehr gen Norden in Richtung USA, wo die grossen Profikämpfe stattfanden, sondern nach innen und in die Breite. Sport wurde zum Recht der Bevölkerung, Breitensport wurde fortan gefördert, und das Amateurprinzip war heilig.

Das hatte ein junger Trainer aus Santiago de Cuba als einer der ersten begriffen: Alcides Sagarra. Der drahtige Mann, dem sein Asthma eine Boxkarriere verbaut hatte, kam zu Beginn der 1960er Jahre nach Havanna und machte 1962 mit der Boxstaffel Havannas erstmals Furore. Ein Jahr später wurde Sagarra, der aus einer bettelarmen Familie stammte und die Schule abgebrochen hatte, zum Cheftrainer der kubanischen Boxmannschaft berufen. Und er arbeitete überaus systematisch. «Wir begannen, die Boxtechnik anderer, vornehmlich europäischer Länder zu studieren, weil das kubanische Boxen fast vollkommen vom US-Stil geprägt war. Langsam haben wir Trainingsabläufe modifiziert, disziplinierter gearbeitet, den Nachwuchs besser gefördert und das Trainingsniveau angehoben», schilderte Sagarra sein Konzept einmal in einem Interview mit der NZZ. Die enge Zusammenarbeit mit akribisch arbeitenden Trainern wie dem Deutschen Kurt Rosentritt oder Andrej Tscherwonenko und Wassili Ramanow aus der Sowjetunion hat Sagarra dabei geholfen, «das Beste aller Schulen zur kubanischen zusammenzufügen».

Ein Konzept, das Sagarra im Trainingscamp der Nationalmannschaft den ehrfürchtigen Beinamen Profe, die Kurzform für Professor, eingebracht hat - und eine lange Reihe von Erfolgen. Dabei musste sich der ehrgeizige, manchmal überaus knurrig auftretende Coach allerdings ein paar Jahre gedulden. Erste Achtungserfolge gelangen zwar schon 1968 an den Olympischen Spielen von Mexiko mit der Silbermedaille von Rolando Garbey im Halbmittelgewicht. Doch erst vier Jahre später in München machte Kuba auf sich aufmerksam und stiess in die Weltspitze des Amateurboxens vor. Drei Goldmedaillen lassen sich nun einmal schwerlich als Zufall abtun. Zudem hatten sich die drei kubanischen Athleten in beeindruckender Manier durch das Turnier geboxt. Das gilt nicht nur für Orlando Martínez im Bantam- und Emilio Correa im Weltergewicht, sondern vor allem für Teófilo Stevenson. Der blitzschnelle Schwergewichtler mit der explosiven Rechten gilt bis heute als bester Amateur der Boxgeschichte.

Stevenson - ein Glücksgriff

Entdeckt haben ihn Sagarra und sein sowjetischer Kollege Andrej Tscherwonenko Mitte der 1960er Jahre und für höhere Aufgaben auserkoren. Ein Glücksgriff, denn der Modellathlet, der nahe der Zuckerfabrik La Delicias in der Provinz Las Tunas aufwuchs, war nicht nur als Boxer ein Hauptgewinn, sondern auch als überzeugter Anhänger der kubanischen Revolution. Diese hatte schliesslich seinem Vater, einem Boxer und Zuckerrohrschnitter, die Arbeitsbedingungen merklich verbessert. Das hat Stevenson sehr wohl registriert, und so wurde er zum Botschafter in vielfältigem Sinne.

Der attraktive Kubaner kokettierte nicht nur mit den Frauen am Ring, sondern auch mit den Medien. So mancher druckreife Satz stammt von ihm, und der berühmteste hat ihn unsterblich gemacht: «Was ist eine Million Dollar gegen acht Millionen Kubaner, die mich lieben?» Das entgegnete er Promoters wie dem berühmten Don King, die den besten kubanischen Boxer für den Kampf gegen Ali ködern wollten. Damals ein hoffnungsloses Unterfangen, denn Stevenson genoss Kultstatus auf der Insel. Ein Auto und ein attraktives Haus waren damals für verdiente Sportler durchaus drin, und Sagarras Boxer waren erfolgreich. Sie wurden zum Symbol der kubanischen Revolution, die mit sportlichen Erfolgen auch Werbung für das etwas andere Gesellschaftsmodell betreiben wollte.

Die Basis der Erfolge ab Ende der 1960er Jahre bildete das weltberühmte Scouting-System. An den Schulen wurde und wird akribisch gesichtet, welche Kinder und Halbwüchsigen die besten Anlagen für Baseball, Leichtathletik oder eben Boxen haben. Schwergewichtler Félix Savón wurde im Osten der Insel, in der Provinz Guantánamo, entdeckt und schliesslich dem Faustkämpfen zugeschlagen. Andere wie der Hürdensprinter Dayron Robles oder der Weitspringer Iván Pedroso landeten bei den Leichtathleten; Regla Torres beim Volleyball. Dieses perfekt funktionierende Sichtungssystem bildet die Basis für die kubanischen Sporterfolge. Das «Flaggschiff des kubanischen Sports», wie das Boxen in den kubanischen Medien gern genannt wird, hat davon, aber auch von der stetig verfeinerten Trainingsmethodik profitiert. Diese zielt darauf ab, im Vierjahrestakt in absoluter Höchstform zu sein. Wie gut das letztlich geklappt hat, belegt die Ausbeute der Medaillen. Kein anderes Land hat in so kurzer Zeit so viele Goldmedaillen eingefahren wie die Kubaner, und kein Land stellt mehr Doppel- oder gar Dreifach-Olympiasieger als die Karibikinsel. Insgesamt wurden kubanischen Boxern 32 Goldmedaillen zwischen 1972 und 2004 bei Olympischen Spielen umgehängt - allein sieben in der Königsdisziplin Schwergewicht.

Schlappe von Peking ausbügeln

An diese Erfolge will Coach Rolando Acebal, der seit 2009 Cheftrainer ist, wieder anknüpfen. Nur zu gern würde er es sehen, wenn jeder seiner acht Boxer, die sich für London qualifiziert haben, mit der Goldmedaille nach Hause käme. Diese Einstellung gefällt Félix Savón, der mehrfach angemerkt hat, dass mit dem Amtsantritt von Acebal ein neuer Wind im Boxcamp eingekehrt sei. Ein Grund, weshalb Savón, der genauso wie Ex-Champ Emilio Correa zum Trainerkreis in der Finca Horbeín Quesada gehört, sich ausgesprochen positiv über die Perspektiven der jungen Staffel äussert. Julio César Cruz, der 22-jährige Weltmeister im Halbschwergewicht, soll die Staffel führen und in die Fussstapfen der ganz Grossen treten. Im Schwergewicht bürgt der Name Erislandy Savón für Qualität. Der junge Superschwergewichtler soll Onkel Félix nacheifern und die Schlappe von Peking 2008 ausbügeln. Dort ging die kubanische Staffel nämlich leer aus. Kein Titel und der Verlust des ersten Platzes in der Nationenwertung trafen die karibische Boxnation hart.

Die Gründe für die mit vier Silber- und vier Bronzemedaillen nicht so schlechte Performance war der Abgang von einem halben Dutzend Premiumboxern. Zu denen zählen mit Guillermo Rigondeaux und Yuriorkis Gamboa zwei Männer, die sich schon den Weltmeistergürtel der Profis in ihren Gewichtsklassen umlegen durften. Schwergewichtler Odlanier Solís gilt zudem als einer der wenigen ernsthaften Herausforderer für die das Schwergewicht dominierenden Klitschko-Brüder. Die Republikflucht dieser Hochkaräter und einiger weiterer Boxer hat die kubanische Nationalstaffel nicht ohne weiteres kompensieren können. So war die Ausbeute der WM von Mailand 2009 und auch die von Baku 2011 längst nicht so, wie man das auf der boxverrückten Insel erwartet. Aber Experten wie Ismael Salas, einst Coach im Trainerkollektiv in Havanna und heute einer der gefragten Trainer bei den Profis, war schon 2007 nicht bange um den Stellenwert des kubanischen Amateurboxens. «In Kuba ist Boxen Volkssport, da wachsen immer wieder neue Talente nach», prognostizierte der Mann, als der nationale Boxverband damals die Teilnahme an den WM in Chicago absagte. Damit wollten Kubas Funktionäre verhindern, dass sich noch mehr Athleten absetzen.

Vier Jahre später war die Staffel wieder da. Mit acht Goldmedaillen an den Panamerikanischen Meisterschaften von Guadalajara meldete sich Kuba 2011 zurück in der Weltspitze. In London will man nun dieses Kunststück wiederholen. «Angesichts der deutlich breiter gewordenen internationalen Spitze ist das nicht ganz realistisch», sagt der unabhängige kubanische Journalist Iván Garcia. Mehr als zwei Goldmedaillen wären für ihn angesichts der Konkurrenz aus Russland und den neuen Boxnationen wie Usbekistan, Kasachstan, der Mongolei oder aber auch China und Thailand eine echte Überraschung.

Immerhin hat Kubas Regierung in den letzten Monaten den Ton gegenüber den Sportlern, die der Insel den Rücken drehten, gemässigt. Jorge Polo, Vizepräsident des nationalen Sportinstituts, erklärte kürzlich, dass jeder Republikflüchtling eine «Niederlage für das Land» sei. In London soll es Niederlagen dieser Art nicht geben. Dort ist die primäre Aufgabe der Schützlinge von Coach Acebal, gut zu boxen. Wenn dann noch jemand dem Beispiel von Teófilo Stevenson folgt, wäre das eine wahrlich revolutionäre Sache.

 

 

 

  

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