Boxing Day in Bern: Chervet forever | NZZ

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25.12.2019 17:55 Uhr
NZZ online vom 25.12.2019

Der Boxing Day ist in fünfzig Jahren zu einer Institution der Schweizer Boxgeschichte geworden. Am Stephanstag tritt erstmals ein Athlet aus China im Berner Kursaal auf. 

Ju Wu heisst der Gegner von Alain Chervet. Er ist zwanzig Jahre jung, in zehn Kämpfen ungeschlagen (acht Siege, zwei Unentschieden). Ju Wu kämpft erstmals im Ausland, es geht um den Internationalen Titel der World Boxing Organisation (WBO) im Leichtgewicht (61,2 kg). Chervet, der normalerweise eine Klasse höher boxt, musste zwei Kilo abspecken. Der Kampf findet am Stephanstag im Berner Kursaal statt.


Onkel Fritz 

Das Meeting hat den Namen mit dem alten englischen Brauch des Boxing Day verknüpft, der am 26. Dezember gefeiert wird. Dass am Jubiläums-Meeting ein Boxer namens Chervet den Hauptkampf austrägt, ist zwar dem Zufall geschuldet, gleichzeitig aber auch eine schöne Fussnote in der langen Tradition dieses Sportanlasses. Vor genau fünfzig Jahren war es Chervets Onkel Fritz Chervet, der im Zürcher Hallenstadion erstmals an einem 26. Dezember boxte und so die Geschichte der Stephanstag-Meetings begründete.

1969 war allerdings noch nicht klar, dass der Feiertag des heiligen Stephan in der Agenda des Schweizer Boxsports künftig an erster Stelle stehen würde. Chervet war damals schon berühmt, er war seit mehr als sieben Jahren Professional und hatte 37 Kämpfe bestritten. Wenn er im Dezember boxte, dann immer vor Weihnachten. So am 15. Dezember 1967, als er seinen ersten EM-Kampf gegen Fernando Atzori durch K. o. verlor. 1969 wollten einige Zürcher Organisatoren die Revanche gegen den Italiener einfädeln, doch Chervets Trainer und Manager Charly Bühler lehnte dieses Ansinnen ab. Er befand, dass sein Kämpfer für diese Aufgabe noch nicht bereit sei. Stattdessen sollte er gegen den zähen Briten John McCluskey kämpfen.

Wie aber kam Charly Bühler, der demnächst 88 Jahre alt wird, auf die Idee, den 26. Dezember als Austragungsdatum vorzuschlagen? Gegenüber der NZZ sagte die Trainerlegende, spontan habe er den Stephanstag vorgeschlagen, weil an diesem Tag seine Tochter Geburtstag habe. Er habe aber auch aufgrund der Erfahrungen mit Sportveranstaltungen im Ausland gespürt, dass der Tag nach Weihnachten ideal sein könnte. Voraussetzung sei, dass ein bekannter Boxer in den Ring steige. Mit Chervet, das wusste Bühler, würde auch ein Nichttitelkampf das Publikum anziehen. Chervet gegen den zähen Schotten John McCluskey fand am 26. Dezember 1969 im Hallenstadion statt. 8000 Zuschauer feuerten «Fritzli» an, doch wegen zweier Niederschläge in den beiden letzten Runden verlor der Berner seinen knappen Punktevorsprung und musste als Verlierer den Ring verlassen. Das Meeting war sportlich und publikumsmässig ein grosser Erfolg; es zeichnete sich ab, dass auf den ersten Boxing Day weitere folgen würden.

Zwei Jahre später ging der zweite grosse Boxing Day über die Bühne, erneut im Hallenstadion. Dem umtriebigen Konzertmanager Hansruedi Jaggi war es gelungen, Muhammad Ali nach Zürich zu holen. Wieder bewährte sich der 26. Dezember als Austragungsdatum, 8000 Zuschauer verfolgten den K.-o.-Sieg Alis gegen Jürgen Blin. Ein Jahr später verteidigte Chervet am gleichen Ort seinen zuvor gewonnenen EM-Titel gegen John McCluskey. 1973 wurde der Boxing Day erstmals in Bern organisiert. Und der Schweizer Boxsport erlebte einen seiner Höhepunkte: Ein entfesselter Fritz Chervet schlug in der Berner Festhalle Fernando Atzori zum zweiten Mal, diesmal durch K. o. in der elften Runde. Er wurde damit zum fünften Mal Europameister. Nach Ansicht vieler Fachleute war es der beste Kampf des kleinen Berners, der danach noch zweimal in der Bundesstadt am Boxing Day kämpfte: 1974 und zwei Jahre später, als er gegen den Thailänder Fairtex seinen letzten Fight austrug. Wenig später gab der 36 Jahre alte Chervet den Rücktritt.

1981 gab ein junger Boxer Namens Enrico Scacchia am 26. Dezember sein Profi-Debüt. Mit ihm hatte Bühler wieder einen Hoffnungsträger, der die Massen bewegen konnte. Und mit Scacchia begann sich der Boxing Day in Bern zu etablieren. Bühler organisierte bis 1984 jedes Jahr das Stephanstag-Meeting mit dem schlagkräftigen Boxer als Aushängeschild. Der in Italien geborene Schweizer sorgte mit seinem spektakulären Boxstil für ein volles Haus und gute Stimmung. Nach seiner EM-Niederlage gegen Said Skouma Ende November 1985 in Genf und dem Bruch mit Charly Bühler konnte Scacchia noch einmal das Publikum des Boxing Day in Ekstase versetzen: 1986 in der Ringschlacht gegen den Finnen Tarmo Uusivirta. Zwei weitere Boxer von Bühler prägten in den neunziger Jahren die Boxing Days: Jean-Charles Meuret und Riad Menasria, der siebenmal am 26. Dezember in Bern auftrat und nach Bühler von Daniel Hartmann betreut wurde.


Prominenz am Ring 

Ab 2004 war es der Berner Daniel Hartmann, Mitbesitzer einer Werbeagentur, der mit seinem Klub «Boxing Kings» während über zehn Jahren die Boxing Days belebte. Mit Yves Studer als prominentem einheimischem Boxer versuchte er ein Stück Las Vegas nach Bern zu importieren. Lichtshows und Glamour zogen im Berner Casino und im Kursaal ein, die Berner Lokalprominenz sass an VIP-Tischen rund um den Ring. Den Versuch, mit «Cüpli-Boxen» den Boxing Day als gesellschaftliches Ereignis gross zu machen, wurde nicht von allen goutiert. Doch Peter Stucki, Präsident der Berufsboxkommission von Swissboxing, relativiert: «Mit Yves Studer, Alain Chervet, Mohamed Belkacem, Roberto Belge, Aniya Seki, Nicole Boss und vielen anderen fanden durchaus spannende Kämpfe statt.» Vor allem Yves Studer, Hauptkämpfer von Daniel Hartmann und mit acht Auftritten Rekordhalter der Berner Boxing Days, sorgte mit seinem kämpferischen Boxstil stets für farbige Meetings.

Seit 2016 organisiert Leander Strupler die Boxing Days. Der junge Berner ist ein Quereinsteiger und besitzt keinen Boxklub. Mit viel Enthusiasmus und jugendlichem Elan versucht er, das Meeting zu entschlacken und zeitlich zu straffen. Das Publikum ist etwas jünger geworden, doch noch immer stellt es einen Querschnitt durch die Berner Gesellschaft dar. Boxen am Stephanstag ist familientauglich, nach den Festtagen geht man in den Kursaal, besonders dann, wenn ein einheimischer Boxer im Hauptkampf ist. Trotzdem muss Strupler wie seine Vorgänger um jeden Franken kämpfen. Der Besitzer einer Kommunikationsfirma kann das Meeting, dessen Budget zwischen 120 000 und 150 000 Franken liegt, nicht allein durch das Ticketing finanzieren. Und er hat noch ein Problem: Alain Chervet weiss nicht, wie lange er noch boxen wird. Der 29-jährige Familienvater schliesst einen Rücktritt schon im nächsten Jahr nicht aus. Doch Strupler glaubt an die Zukunft des Boxing Day in Bern. Er hat soeben den Vertrag mit dem Berner Kursaal um weitere drei Jahre verlängert.

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