Der erste Feind des Boxers ist er selbst

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14.02.2019 21:06 Uhr

NZZ vom 13. Februar 2019

Keine Sportart hat Künstler dermassen fasziniert und inspiriert wie das Boxen. In der Literatur, in der Malerei und im Film wurde das Thema des wesenhaften Kampfes zweier Männer im Ring ausgiebig dargestellt. Vor allem die jüngste Kunstform, der Film, hat sich ausführlich mit Boxthemen auseinandergesetzt. Das ist naheliegend, denn in den bewegten Bildern lässt sich der Kampf im Ring aus zahlreichen Blickwinkeln darstellen. Dazu kommt neben der visuellen Wahrnehmung mit der Tonspur auch das Hörerlebnis. Für den Aufbau einer Geschichte eignet sich der Boxsport ideal, weil das existenzielle Drama des oder der Protagonisten im Ring zu seinem Höhepunkt geführt werden kann.

Das ist auch im achten und definitiv letzten «Rocky»-Film der Fall. In «Creed 2» wird noch einmal an die Geschichte des Boxers Rocky Balboa angeknüpft, ähnlich, wie das bereits 2015 im vorgängigen Film «Creed – Rocky’s Legacy» gemacht wurde. Die «Rocky»-Filme sind eng mit dem Hauptdarsteller Sylvester Stallone verbunden, der Mitte der 1970er Jahre mit einer sehr einfach gestrickten Story die Figur des Rocky Balboa lancierte und eine beispielhafte Erfolgs-Serie einleitete. Der erste der acht «Rocky»-Filme gewann 1977 drei Oscars.

Stallone soll sich vom Kampf zwischen Muhammad Ali und Chuck Wep-ner 1975 inspiriert haben. Der Mut und die Widerstandskraft des weissen Wep-ner gegen den hohen Favoriten Ali faszinierte den damals 28 Jahre alten und erfolglosen Schauspieler Stallone dermassen, dass er innert weniger Tage das Drehbuch zum ersten «Rocky»-Film schrieb. Der Rest ist Geschichte. In den sieben weiteren «Rocky»-Filmen stellt Stallone den alternden Rocky Balboa dar. In «Creed – Rocky’s Legacy» läuft Stallone zur Höchstleistung auf, was ihm eine Oscarnomination einbrachte. Zweifellos: Stallone hat mit seiner Figur Filmgeschichte geschrieben, auch wenn viele der Szenen übertrieben sind und zum Teil plakativ wirken.

Chaplin war der Erste

Einer der ersten Regisseure, die die Möglichkeiten des Boxsports als Kunstform entdeckten, war das Genie Charlie Chaplin. 1914 tauchte er als Schauspieler in «The Knockout» auf. Zwar nur in einer Nebenrolle, doch schon in den kurzen Sequenzen als Ringrichter war zu sehen, dass er am Boxsport und dessen grossen Möglichkeiten Gefallen fand. In «The Champion» vereinte Chaplin ein Jahr danach jene Elemente, die später in fast allen Boxfilmen wiederkehren sollten: den Underdog, der den Champion besiegt. In «City Lights», Chaplins erstem Tonfilm, steigt der Tramp, die immer wiederkehrende Film-Figur, in den Ring, um seine Existenz zu retten. Boxen als Überlebenskampf – ein ewiges Sujet.

Der Oscar für De Niro

Hunderte Filme haben die Filmstudios dem Boxen gewidmet. In den diversen Listen der besten Streifen liegt «Raging Bull» von Martin Scorsese fast unumstritten auf Platz 1. Das Boxerdrama brachte dem Hauptdarsteller Robert De Niro einen Oscar ein. Der Erfolg des Filmes beruht nicht nur auf der glänzenden Darstellung – De Niro nahm zwanzig Kilo zu, um den alternden Boxer darzustellen. Der Film war auch deshalb erfolgreich, weil er die Lebensgeschichte von Jake LaMotta zeigt, einem Boxer, der nach dem Zweiten Weltkrieg in einer Zeit wirkte, als kriminelle Elemente den Sport dominierten und sich viele Boxer in der Unterwelt bewegten.

Scorsese drehte «Raging Bull» 1980 denn auch grösstenteils in Schwarz-Weiss, was dem Film einen dokumentarischen Touch gab. LaMotta gehörte nicht zu den allergrössten Kämpfern – er verlor zwischen 1941 und 1954 knapp ein Fünftel seiner 102 Kämpfe. Doch er wurde weltberühmt, als er im Juni 1949 beim ersten Titelkampf den Weltmeister Marcel Cerdan in der zehnten Runde k. o. schlug. Es war Cerdans letzter Kampf. Er stürzte Monate später mit dem Flugzeug über den Azoren ab, als er sich für die Revanche gegen LaMotta in die USA begeben wollte. Das französische Boxidol blieb auch wegen seiner Affäre mit Edith Piaf im Gedächtnis; sie widmete ihm noch vor seinem Tod mit dem ergreifenden Lied «L’hymne à l’amour» eines ihrer berühmtesten Chansons.

Scorsese hat mit seinem Film die Latte sehr hoch gelegt. Zwei, drei andere Filme kommen nahe an das Niveau von «Raging Bull» heran, der auch als einer der besten Filme überhaupt bezeichnet wird. Erwähnenswert in der Reihe der besten Boxfilme ist vor allem «Million Dollar Baby» (2004) von Clint Eastwood. Der alternde Hollywood-Star brilliert nicht nur als Schauspieler, sondern auch als Regisseur. Der Film wurde mit vier Oscars ausgezeichnet, unter anderem als bester Film. Hilary Swank erhielt zu Recht ihren zweiten Oscar. Mit ihrer brillanten Darstellung öffnete sie endgültig das Tor für das Frauenboxen. Die Trainings- und Kampfszenen sind sehr realistisch und übertreffen die meisten Filmaufnahmen, die in Hollywoods viereckigen Ringen gedreht wurden.

«The Fighter» mit Mark Wahlberg in der Hauptrolle reiht sich mühelos unter die besten zehn Boxfilme, ebenso «Ali» mit Will Smith, der Muhammad Ali verkörpert, und «Hurricane» mit Denzel Washington, der die Lebensgeschichte von Rubin Carter darstellt. Als einziger Dokumentarfilm schafft es «When We Were Kings» in die Liste der besten Boxfilme. Der Streifen zeichnet den epischen WM-Kampf zwischen Muhammad Ali und George Foreman am 30. Oktober 1974 in Kinshasa nach, den «Rumble in the Jungle». Er ist gleichzeitig eine Hommage an Ali, den grössten Boxer und Sportler der Geschichte.

Auch die Literatur hat sich wiederholt mit dem Thema Boxen auseinandergesetzt. Beim legendären Kampf zwischen Ali und Foreman sass auch Norman Mailer am Ring. Der amerikanische Schriftsteller und Pulitzerpreisträger kommentierte den Kampf und beschrieb später in «The Fight» die Ereignisse von Kinshasa. Mailer war selber ein passionierter Boxer und stellte damit keine Ausnahme dar. Boxende Schriftsteller waren Georges Simenon, Ernest Hemingway und Arthur Carvan. Letzterer trat in Barcelona sogar gegen den ehemaligen Boxweltmeister Jack Johnson an. Rund 150 Romane und Erzählungen haben das Boxen zum Thema, so der Literaturwissenschafter und Journalist Manfred Lukas. In seiner Dissertation («Solange du stehen kannst, wirst du kämpfen – Die Mythen des Boxens und ihre literarische Inszenierung», 2001) wird unter vielen auch Bertolt Brecht erwähnt. Der deutsche Dramatiker und Schriftsteller war, wie sein Zeitgenosse George Grosz, ein Boxfan und sass oft am Ring. Er schrieb die Kurzgeschichte «Der Kinnhaken»; ein Boxerroman blieb unvollendet. In einer «Gedenktafel für zwölf Weltmeister» beschrieb er die besten Mittelgewichtsboxer von 1891 bis 1927. Und in der Oper «Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny» heisst es im zweiten Akt:

«Erstens, vergesst nicht, kommt das Fressen / Zweitens kommt der Liebesakt. Drittens das Boxen nicht vergessen / Viertens Saufen, laut Kontrakt. Vor allem aber achtet scharf / Dass man hier alles dürfen darf (wenn man Geld hat).»

Die intelligentesten Gedanken über das Boxen wurden von einer Frau verfasst. In ihrem Essay «Über Boxen» hat die amerikanische Pulitzerpreisträgerin Joyce Carol Oates den Boxsport in seiner gesamten Komplexität erfasst. Sie setzt sich mit der Psyche des Boxers auseinander, befasst sich mit dem Tod im Ring, stellt sich der Kritik am Boxsport. Und sie macht den Unterschied zu anderen Sportarten deutlich. Für die Schriftstellerin ist Boxen nicht Sport, sondern eine Metapher für das Leben, für die menschliche Existenz: «Boxen hat grundsätzlich nichts Spielerisches, nichts Helles, nichts Gefälliges an sich. In seinen intensivsten Momenten ist es ein so ungebrochen und so machtvolles Bild des Lebens – seiner Schönheit, seiner Verletzlichkeit und Verzweiflung, seines unberechenbaren und oft selbstzerstörerischen Muts –, dass es das Leben selber ist und kaum ein blosser Sport.»

Oates befasste sich auch mit sich selber und ihren Schriftsteller-Kollegen, die über das Boxen schreiben und die Verwandtschaft zwischen Boxen und Schreiben suchen: «Ein Boxer erfährt seine Grenzen in einem Ausmass, in dem sie kein Schriftsteller, kein Künstler je erfahren wird – denn wir, die wir schreiben, kennen uns nicht wirklich ganz, wir leben in einer kaleidoskopartigen Welt sich immer verschiebender Werte und Beurteilungen, und wir sind unfähig, mit endgültiger Sicherheit zu sagen, ob uns wahre Erleuchtung zu unseren höchsten Anstrengungen treibt oder eine Art sublimer Selbsttäuschung.»

Oates hat ihre faszinierende Schrift über das Boxen den Boxern selber gewidmet: «Für die, die kämpfen . . .» steht am Anfang ihres Essays. Auch der spanische Maler, Bühnenbildner und Autor Eduardo Arroyo begeisterte sich für das Boxen. Der Künstler war ein Boxenthusiast und führte jahrelang eine umfangreiche Kunstsammlung mit zahlreichen Zeugnissen, darunter 5000 Bücher. Inzwischen ist die Sammlung aufgelöst. 1997 wurden Arroyos Bilder und Lithografien im Olympischen Museum in Lausanne ausgestellt. In einem Interview mit der Wochenzeitschrift «Facts» sagte der Spanier damals auf die Frage, was ihn am Boxen so fasziniere: «Der Boxer weiss, dass er einen Kampf gewinnen kann und doch verliert. Er wird malträtiert und verbraucht Energien. Dafür bezahlt er im nächsten Kampf. Mir imponiert diese Bescheidenheit, die im Wissen um das Verlieren liegt. Der erste Feind des Boxers ist er selber. Das ist das Wesen des Lebens, seine philosophische Essenz: Du bist dein Hauptfeind.»

Arroyo – der schreibende Maler

Dass der Boxer nicht nur im Ring, sondern auch im Leben sein erster Feind sein kann, zeigt das Beispiel des Berners Walter Blaser. Diesem Boxer hat Arroyo 1991 eine grafische Serie mit dem Titel «L’enfant blessé» gewidmet. Sie war vor einigen Jahren im Thuner Kunstmuseum anlässlich der Ausstellung «Eduardo Arroyo. Die Schweizer Kapitel» zu sehen. Walter Blaser, ein Verdingbub aus dem Haslital, war in der 1970er Jahren wegen seines offensiven Kampfstils ein Publikumsliebling. Obschon boxerisch limitiert, kämpfte er 1975 im Zürcher Hallenstadion im Weltergewicht um die Europameisterschaft. Vom Spanier Gomez Fou wurde er im Ring regelrecht demoliert. Im Gesicht schwer gezeichnet, blieb Blaser 15 Runden lang stehen. Traurige Berühmtheit erlangte der zähe Boxer ein paar Jahre später, als er in Genf seine Ehefrau erstach und sich danach selber richtete.

Obschon Arroyo sich nicht als Schriftsteller sah, was sein ursprünglicher Berufswunsch war, schrieb er ein Buch über den Cocteau-Freund und Boxer Panama-El Brown («Panama – das Leben des Boxers Al Brown») und verfasste dazu das Theaterstück «Bantam», das 1997 in Zürich aufgeführt wurde. Einer der Schauspieler war Daniel Ludwig, dessen Theaterstück «Der Boxer» ein Jahr zuvor in Bern auf die Bühne gekommen war. Es behandelt die Geschichte von Enrico Scacchia, der in Bern ein Box-Star war, dem aber wegen seines schwierigen Charakters der internationale Durchbruch verwehrt blieb.

Der Aufstieg und Fall eines Boxers, das Drama im Ring und ausserhalb: Boxen hat Regisseure, Schriftsteller, Maler und Theaterautoren fasziniert wie keine andere Sportart. Arroyo ist nur eines von vielen Beispielen.

Boxen als Kunstform

In der Schweiz war es Charly Bühler, der immer wieder die Verbindung zwischen Boxen und Kunst suchte. Der Romand war nicht nur ein charismatischer Boxlehrer, der einen legendären Boxkeller betrieb, er war auch ein profunder Kunstkenner. Für ihn war eine Verbindung zwischen Boxen und Kunst offenkundig. Die beiden Bereiche waren nach ihm sogar miteinander verwandt. Bühler verstand Boxen als Kunst. Die Hand, die malt und musiziert, diese Hand kann auch zur Faust geballt und kunstvoll eingesetzt werden. Wer die Technik des Faustkampfes vollendet beherrscht, kann Boxen zur Kunst erheben.

Bühler hat diese Kunst gelehrt und mit einigen Boxern wie Max Hebeisen, dem jungen Enrico Scacchia und Fritz Chervet bewiesen, dass Boxen mehr ist als eine Schlägerei im Ring. Vor allem Chervet hat Bühlers Philosophie vom Boxen nahezu perfekt umgesetzt. Kein anderer Schweizer Boxer hat die hohe Schule des Boxens, so wie Bühler sie lehrte, beherrscht wie der kleine Fliegengewichtler. Chervet im Ring – das war ein optischer Genuss. Es war nicht verwunderlich, dass «Fritzli» mit seiner grossartigen Technik auch Leute begeisterte, die nie zuvor einen Boxkampf gesehen hatten. Chervet war für Bühler der Beweis, dass auch ein Schweizer Boxer in die Weltelite vorstossen kann.

Dass Bühler eine grosse Affinität zur Malerei und zum Jazz hatte, konnte man im Keller an der Kochergasse in Bern sehen. Der eher schlichte und kleine Trainingsraum war ein kleines Museum. An den Wänden hingen Werke der Künstler Alfred Hofkunst, Rolf Iseli und Franz Fedier. Die Sujets der drei Künstler, die bei Bühler jahrelang das Boxtraining besuchten: das Boxen und der Boxer.

Bühlers kleines Reich war vollgestopft mit Preziosen, Gadgets und kitschigem Zeug, alles hatte einen Bezug zum Boxen. Aus dem Lautsprecher ertönten Jazzklänge, sehr oft Duke Ellington, Charlie Parker oder Miles Davis. Und im Ring erklärte Bühler den Schützlingen, ob jung oder alt, Profi oder Amateur, dass Boxen Kunst ist, dass der Boxsport die «noble Art der Selbstverteidigung» sei.




 
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