Das grosse Interview mit Vitali Klitschko

«Zurück

07.02.2010 15:00 Uhr

«Das Leben ist ein Kampf. Du musst deine Interessen verteidigen»

Von Othmar von matt
Der Boxweltmeister und Politiker Vitali Klitschko (38) sagt, warum er Stadtpräsident von Kiew werden möchte, was er von Berns Stapi Tschäppät gelernt hat – und weshalb er vor nichts Angst hat. Zudem äussert er sich zur Präsidentenwahl in der Ukraine, die heute Sonntag stattfindet.
Herr Klitschko, Sie möchten, wie schon 2008, im April Bürgermeister von Kiew werden.
Vitali Klitschko: Genau.
Mit 20 Prozent Zustimmung liegen Sie im Moment in Front.
Das stimmt. Alle Parteien betrachten die Stadt Kiew als Möglichkeit, Geld für sich zu holen. Oder politischen Einfluss. Ich aber bin kein Mitglied einer politischen Partei. Ich bin unabhängig, vertrete nur die Interessen der Stadtbewohner.
Sie treten ganz allein an?
Nicht ganz alleine. Ein Block aus zwei Parteien unterstützt mich. Aber ich vertrete keine Parteiinteressen. Das ist schwierig.
Und gefährlich. Weil Sie Machtkartelle sprengen könnten. Gibt es Drohungen gegen Sie?
Wissen Sie was: Das Leben ist ein Kampf. Du musst deine Interessen verteidigen. Einen solchen Job erhältst du nicht umsonst. Im Sport musst du im Wettkampf beweisen, dass du der Beste bist. Das ist in der Politik genauso. Wer Angst davor hat, seine Interessen zu verteidigen und seine Meinung zu äussern, kann keine Politik machen. Das Leben ist von Geburt an ein Wettkampf.
Also werden Sie tatsächlich bedroht?
Nein. Keiner bedroht mich. Ich habe aber auch keine Angst.
Nur: In der Ukraine leben Politiker gefährlich.
Wer Angst hat zu beweisen, dass er der Stärkste ist – egal wo –, wird nie erfolgreich. Natürlich kennt jeder von uns Angst. Von Natur aus. Und was passieren kann, zeigte sich am Gesichtvon Ex-Präsident Wiktor Juschtschenko. Man versuchte vor fünf Jahren, ihn umzubringen. Wo sehr viel Macht und Geld im Spiel sind, ist es auch sehr gefährlich. Verschiedene Leute und Finanzgruppen kämpfen um ihre Interessen. Ich bin aber fest davon überzeugt, dass meine Haltung gut für das Land ist. Ich habe keine Angst davor, bedroht zu werden. Wissen Sie, weshalb nicht? Weil ich fest davon überzeugt bin, dass ich recht habe. Das gibt mir Kraft.
Welche Beziehung haben Sie zur Schweiz?
Ich habe sehr viele Freunde in der Schweiz. Ich war sehr oft in der Schweiz, weiss, wie sie funktioniert. Mich begeistern die Jungfrau-Region und die ganze Atmosphäre. Und ich mag Milch, Käse und Schokolade. Zuletzt boxte ich ja in der Schweiz.
Ja, in Bern. Und Sie gewannen.
Ich erhielt grosse Unterstützung, das war fantastisch. Und ich habe Alexander Tschäppät kennen gelernt.
Den Stadtpräsidenten von Bern.
Genau. Ich bin ihm sehr dankbar. Er hat mit mir eine unvergessliche Stadtführung gemacht.
Wusste Tschäppät, dass Sie in Kiew für das Stadtpräsidium kandidieren?
Ja.
Gab er Ihnen Tipps?
Er erklärte mir, wie ein Stadtpräsidium funktioniert. Aber man kann nicht einfach alles auf Kiew übertragen. Die politische Situation ist zu unterschiedlich. Dennoch lässt sich viel Know-how inKiew integrieren. Wir haben in der Ukraine sehr viele Möglichkeiten. Und ich persönlich kenne viele Leute im Westen und in den USA. Ich lernte auch Rudolph Giuliani kennen, den Ex-Bürgermeister von New York. Er besuchte mich in Kiew. Ich will all diese Kontakte für mein Land und meine Stadt nutzen. Das müssen wir, wollen wir ein modernes europäisches Land werden.
Was hätten Sie gerne aus Bern mitgenommen?
Die Verkehrsregelung. In Kiew wird gerade heftig um die Strassenbahn diskutiert. Viele wollen sie weghaben. Sie sei zu alt. Doch Bern beweist, dass man auch ein altes System – das historische Tram – mit ganz moderner Technologie, neuen Zügen attraktiv machen kann. In Bern gefielen mir aber auch die Museen sehr. Die Stadt unternimmt alles, um die Menschen in die Museen zu bringen. Ich bin voll begeistert vom Einstein-Museum.
Voll begeistert?
Ja. Einstein war ja – im übertragenen Sinne – kein Schweizer. Er ist Schweizer – und doch nicht Schweizer. Er wurde in Deutschland geboren, besass später aber auch die Schweizer Staatsbürgerschaft. Es ist faszinierend, wie die Stadt Bern Menschen in ihre Geschichte integriert. Das ist ein gutes Beispiel für Kiew. Das können wir nachahmen, denn es bringt einer Stadt sehr viel. Wie etwa die Fussballweltmeisterschaft 1954 in Bern, als Deutschland Weltmeister wurde. Und was mich beeindruckt hat: Alexander Tschäppät denkt strategisch.
Inwiefern?
Die Stadt unterstützte meinen Boxkampf um den Weltmeistertitel. Das kostete die Stadtkasse aber etwas.
Wie viel?
Ein bisschen. Tschäppät wurde von der Opposition kritisiert. Ich habe mit ihm offen darüber gesprochen. Seine Antwort: Eine Woche lang gab es in der ganzen Stadt Bern kein einziges freies Hotelzimmer, weil so viele Gäste kamen. Also hat der Anlass der Stadt unter dem Strich mehr eingebracht, als er sie gekostet hat. Selbstverständlich hat Tschäppät diesen Event unterstützt. Aber nicht wegen des Boxens, sondern zum Wohl der Stadt und ihrer Einwohner. Ich freue mich, dass alles gut gelaufen ist.
Sie waren sehr zufrieden?
Die Atmosphäre war einmalig.
Können Sie sich vorstellen, nochmals in der Schweiz zu kämpfen?
Natürlich. Ich habe mich sehr wohl gefühlt, und die Menschen haben mich toll unterstützt.
Zurück zur Ukraine. An diesem Wochenende sind Wahlen. Wer wird gewinnen? Premierministerin Julia Timoschenko oder Wiktor Janukowitsch, der Vorsitzende der Partei der Regionen?
Das ist schwierig zu sagen. Die Chancen stehen 50:50. Kein Experte weiss, wer wirklich die besseren Karten hat. Diese Wahl wird erst in den letzten Stunden entschieden.
Wer soll Ihrer Meinung nachgewinnen?
Ich habe keine besondere Präferenz.
Was erwarten Sie vom neuen Ministerpräsidenten?
Entscheidend ist: Die Menschen in der Ukraine erwarten heute politische und wirtschaftliche Stabilität. Sie haben die Polarisierung zwischen den zwei grossen Parteien des Landes satt, wollen eine pragmatische und voraussehbare Politik. Die wirtschaftliche Zukunft ist die wichtigste Frage der Ukraine, innen- wie aussenpolitisch.
Ein Machtkampf legt die Ukraine politisch lahm?
Die zwei wichtigsten Parteien, der Ministerpräsident und der Premierminister, liefern sich einen ständigen Machtkampf. Der wirtschaftliche Krieg führt sozusagen zu einem politischen Krieg. Aufgabe des nächsten Präsidenten ist es deshalb, die Situation zu stabilisieren und die politischen Reformen weiterzuführen. Ex-Präsident Leonid Kutschma hatte diese Reformen begonnen, doch sie wurden nicht zu Ende geführt. Alles andere kommt erst an zweiter oder dritter Stelle. Deshalb ist es gar nicht so entscheidend, wer die Wahlen gewinnt.
Welche Reformen sind dringend?
Kutschma hatte unsere damalige Präsidialrepublik in Richtung parlamentarische Präsidialrepublik entwickelt. Er wollte dem Parlament mehr Macht geben. Doch inzwischen lähmen sich Ministerpräsident und Premierminister in einem politischen Wettkampf gegenseitig. Es ist nicht klar geregelt, wer welche Kompetenzen und welche Macht hat. Deshalb gibt es zwei Möglichkeiten.
Der Ministerpräsident müsste Macht abgeben?
Das wäre der erste Weg. Der Ministerpräsident tritt Macht an den Premierminister ab. Dass er das freiwillig tun wird, glaube ich allerdings nicht. Der zweite Weg scheint mir realistischer: Der neue Präsident bringt in einem ersten Schritt Kutschmas Reformen zu Ende. Die Frage ist allerdings, ob ein Präsident überhaupt eine Chance hat, auf die parlamentarische Präsidialrepublik zurückzukommen. Dafür braucht er eine Mehrheit im Parlament. Und davon hängt sehr viel ab.
Wo steht die Ukraine heute im internationalen Vergleich?
Historisch und geografisch betrachtet stehen wir in Mitteleuropa. Wir verbinden Ost- und Westeuropa.
Etwas, das man im Westen kaum so sieht.
Der Westen hat vergessen, dass sich die geografische Mitte Europas inder Ukraine befindet. Wirtschaftlich und politisch ist das aber leider nicht so. Wir müssen sehr viel verändern, um auch in Sachen Lebensstandard und in Sachen Politik zu Europa zu gehören.
Sie möchten, dass die Ukraine derEU beitritt?
Wissen Sie: In dieser Frage ist die Ukraine sehr gespalten. Fünfzig Prozent der Bevölkerung unterstützen den europäischen Weg, die anderen fünfzig Prozent sprechen sich für Russland aus, unseren Nachbarn.
Und in welches Lager gehören Sie?
Ich finde, dass die Ukraine die Schweiz Osteuropas werden muss. Wir dürfen nicht der EU beitreten.
Die Ukraine soll eigenständig bleiben wie die Schweiz?
Wir müssen Europa in der Ukraine bauen, mit europäischen Standards. Aber wir dürfen nicht der EU beitreten, sollten unabhängig bleiben und unsere eigenen Interessen verteidigen. Wir haben alle Möglichkeiten dazu.
Wo sehen Sie das Potenzial der Ukraine für einen Alleingang?
Die Ukraine hat Zugang zum Meer, und sie verbindet Osten und Westen. Die Ukraine ist ein geopolitisch sehr wichtiges Gebilde in Europa. Sie hat ein gewaltiges Potenzial. Die Frage ist allerdings: Wann endlich nutzt sie es? Alle Länder entwickeln sich täglich. Wir hingegen bleiben stehen. Das ist schädlich. Deshalb hängt so viel ab vom nächsten Präsidenten. Wir müssen unsere politische und wirtschaftliche Zukunft bauen. Die ukrainische Politik versteht aber leider nicht, was die junge Generation will.
Was will sie?
Weshalb lebe ich in der Ukraine? Weil ich hier etwas verbessern will. Ich lebte sehr lange im Westen. Ich habe den Lebensstandard in Europa und in den USA mit eigenen Augen gesehen. Und ich frage mich, weshalb bei uns die simpelsten Dinge leider nicht funktionieren, die in Europa zum normalen Alltag gehören.
Woran denken Sie?
In der Ukraine funktioniert das ganze Sozialsystem nicht. Auch das Wirtschaftssystem nicht. Ich lade sehr viele westliche Unternehmen in die Ukraine ein. Sie eröffnen in der Ukraine Niederlassungen und bringen uns westliche Kultur mit. Die Kultur etwa, wie man in Europa arbeitet. Doch leider gehört die Ukraine zu den korruptesten Ländern dieser Welt. Das ist kein Geheimnis. Korruption bremst die Ukraine. Besiegen wir sie nicht, hat die Ukraine auch keine Zukunft.
Haben Sie ein konkretes Beispiel für Korruption?
Ich kann Ihnen das Beispiel erzählen, das mir den Anstoss gab, in die Politik zu gehen. Ein Geschäftsmann kam mit der Idee zu mir, in Kiew ein Parkhaus nach westlichem Standard zu bauen. Für Kiew und die Anwohner wäre das sehr gut. Wir haben gewaltige Parkprobleme, in der Altstadt gibt es keine Parkhäuser. Monatelang lief ich mit dem Konzept in ganz Kiew herum, vertrat es bei der Stadt, bei Beamten, sammelte gar Unterschriften. Eines Tages sprach der zuständige Beamte ganz offen mit mir. «Ich verstehe schon, wie wichtig dieses Parkhaus für die Stadt wäre», sagte er. «Nur: Wo ist mein eigenes Interesse an einem solchen Parkhaus?»
Der Beamte wollte Geld?
In jenem Moment verstand ich: Er wollte Geld unter dem Tisch erhalten. Wissen Sie was: Solange wir die Korruption nicht besiegen, gehört die Ukraine sicher nicht zur Europäischen Union. Zwischen einem Drittel und der Hälfte der ukrainischen Wirtschaft ist Schattenwirtschaft. Das besagen Schätzungen. Deshalb ist es auch so schwierig, in der Ukraine über Reformen zu sprechen. Und Kiew muss seine Seele wiederfinden.
Nur: Kiews Bürgermeister Leonid Tschernowetski soll selbst korrupt sein.
Er spielt sein eigenes Spiel. Darin geht es nur um seine Partei. Er will keine anderen Parteien in der Stadt. Wir brauchen aber transparente Politik. Es soll klar sein, was die Stadt erhält, weshalb ein Geschäft gut ist. Leider funktioniertalles unter dem Tisch. Und es funktioniert nur für eine kleine Gruppe von Leuten, die alles aus dem Schatten heraus steuern.
Stimmt es, dass der Bürgermeister neben der Sophienkathedrale, einer Unesco-geschützten fünfschiffigen Kreuzkuppelkirche von 1037, einen Wolkenkratzer bauen lassen wollte?
Das stimmt. Und die Unesco drohte, das Welterbe für die Sophienkathedrale abzuerkennen. Unsere Stadt ist 1500 Jahre alt. Kiew war früher die Hauptstadt von Russland, die Zarenfamilie kam aus Kiew. Wir haben eine wunderbare Geschichte. Wir können stark von ihr profitieren, ein grosser Teil unseres Einkommens stammt aus dem Tourismus. Wir dürfen aber nicht zerstören, was wir haben. Wir brauchen ein Moratorium für Bauten in der unmittelbaren Umgebung von historischen Kirchen. Sonst zerstören wir unsere Geschichte und unsere Identität. Ich weiss, wovon ich spreche. Mein erster Job war Stadtführer.
Im Ernst?
Ja. Schon als ich noch zur Schule ging, leitete ich Exkursionen. Ich kenne die Geschichte meiner Stadt. Was wir besitzen, kann nicht mit Geld aufgewogen werden. Mein Herz tut weh, wenn ich sehe, was man hier zerstören will. Deswegen engagiere ich mich in der Opposition.
 
Vitali Klitschko
Vitali Klitschko (38) wurde als Sohn eines Offiziers der Sowjetarmee und einer ukrainischen Pädagogin geboren. Er begann als 13-Jähriger mit Boxen – auf dem Militärstützpunkt, wo sein Vater lebte. Er wurde dreimal Weltmeister im Schwergewicht. Sein jüngerer Bruder Wladimir Klitschko ist ebenfalls erfolgreicher Boxer. «Dr. Eisenfaust», wie Vitali Klitschko auch genannt wird, zieht es jetzt in die Politik: Er kandidiert für das Stadtpräsidium der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Klitschko hat mit seiner Frau Natalia drei Kinder. Erste Erfahrungen im Boxen machte Vitali Klitschko im Alter von dreizehn Jahren auf einem sowjetischen Militärstützpunkt in Hradcany, Tschechoslowakei, wo die Familie Klitschko seit der Versetzung des Vaters lebte. - Sonntagszeitung
Sponsoren

Partner