Muhammad Ali am Üetliberg

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23.12.2019 08:15 Uhr
Marc Tribelhorn / NZZ vom 23.12.2019

Am 26. Dezember 1971 kämpft der beste Boxer aller Zeiten in Zürich – die Geschichte eines Spektakels und Fiaskos

Marc Tribelhorn / NZZ vom 23.12.2019

Es ist ein Empfang wie für einen hohen Staatsgast. Hunderte von Schaulustigen jubeln am Flughafen in Kloten, als der berühmteste Sportler der Welt am 16. Dezember 1971 um 14 Uhr 50 aus dem Jumbo-Jet der Swissair steigt: Muhammad Ali, der «Grösste», samt seinem Gefolge, einem rund 50-köpfigen Tross aus Familie, Freunden, Betreuern und Bewachern. Der Mann, der bereits vor Jahren seinen «Sklavennamen» Cassius Clay abgelegt hat, trägt eine seiner Töchter auf dem Arm und winkt in die Menge, bevor er noch auf dem Rollfeld von einer schwarze Mercedes-Limousine mit Schweizer Fähnchen abgeholt wird. 

Der Grund seines Besuchs ist ein Boxkampf im Hallenstadion gegen den besten deutschen Schwergewichtler, Jürgen Blin, den «edelgermanischen Faustfechter» (so die «Schweizer Illustrierte»), der in 40 Kämpfen noch nie K. o. gegangen ist. Schon vor dem Abflug in New York hat Ali indes vollmundig prophezeit: «Jürgen Blin – der fällt hin!»

Die Wette des Bürgerschrecks

Dass in der kleinen Eidgenossenschaft am zweiten Weihnachtstag ein solches Spektakel stattfinden kann, ist Hansruedi Jaggi zu verdanken. Der kleine, hagere Schweizer ist eine schillernde Persönlichkeit, ja ein Bürgerschreck. Jaggi, 31-jährig, trägt lange Haare, eine getönte Brille, Brillantschmuck und spitze Stiefeletten, fährt Rolls-Royce und hat sich als Szenewirt, Manager der Musikgruppe Les Sauterelles und Konzertorganisator einen Namen gemacht. 1967 holte er die Rolling Stones ins Hallenstadion, ein Jahr später Jimi Hendrix. Beide Anlässe mündeten in Strassenschlachten zwischen Jugendlichen und der Polizei. Der Boxkampf mit Ali sei eine Wette gewesen, die er in einer feuchtfröhlichen Nacht in einer Zürcher Bar eingegangen sei, lässt er verlauten – um eine Flasche Whiskey. Monatelang setzt Jaggi alle Hebel in Bewegung, fliegt mehrmals in die USA, sucht Unterstützung in der Schweiz, die dem Vorhaben aber vor allem mit Skepsis oder Spott begegnet. 

Doch nun ist alles bereit für die teuerste Sportveranstaltung, die das Land bisher gesehen hat. Die Kosten belaufen sich auf 2,4 Millionen Franken – das sind achtmal mehr als für die über einwöchige Tour de Suisse. Muhammad Alis Börse beträgt allein 1,2 Millionen, jene seines Kontrahenten Blin 180 000 Franken.

Der Unterschied zwischen dem amerikanischen Superstar Ali und dem Hamburger Fleischermeister und Amateurboxer Blin zeigt sich auch in der Unterbringung. Während Ali mit seinem Hofstaat im noblen Hotel Atlantis am Fusse des Üetlibergs residiert, übernachtet Blin mit seinem vierköpfigen Team im unscheinbaren «Ascot» in Zürich Enge. Zu den öffentlichen Trainings im Limmathaus wird Ali chauffiert; Blin muss das Taxi nehmen. Täglich finden sich mehrere hundert Fans ein, um für 14 Franken 50 dem Grossmeister und Grossmaul Ali beim Seilspringen oder Sparring zuzuschauen. «Ich bin der schönste Kämpfer der Welt», verkündet er lächelnd, «ich werde dem hässlichen Deutschen den Mund stopfen». An einer Pressekonferenz rappt er auf Deutsch: «Wenn du nicht besser bist, mein lieber Blin – dann macht das Ganze für Dich keinen Sinn!»

Jürgen Blin, der sich schon in seiner Heimat akribisch vorbereitet hat, trainiert auch im Limmathaus wie ein Besessener (Eintrittspreis für Zuschauer: 7 Franken 70). Der Kampf gegen Ali ist die Chance seines Lebens: «Wenn ich gegen ihn gut aussehe, werde ich nachher so viele Angebote aus Amerika haben, wie ich nur will.» Er weiss, dass er boxerisch klar unterlegen ist, betont aber: «Kondition schlägt Klasse».

Tatsächlich ist Muhammad Ali nicht in seiner besten Verfassung. Der 29-Jährige hat ein paar Kilos zu viel auf den Rippen. Vor allem aber nagt an ihm, dass er im März im Madison Square Garden gegen «Smokin’ Joe» Frazier in einem der brutalsten und legendärsten Kämpfe der Boxgeschichte den Weltmeistertitel nicht zurückgeholt hat. Ein Teil der Schweizer Presse schnödet bereits: «Wo ist seine Bissigkeit geblieben, seine Arroganz, sein Witz, seine Unberechenbarkeit?» Ali wirke «bedrückt und missmutig», tue alles «mechanisch, ungern und langsam».

Die Bevölkerung hingegen ist begeistert. Ali albert mit seinen drei Töchterchen herum, macht Spässchen mit Journalisten, lässt sich gutgelaunt filmen und fotografieren, wenn er in abgewetzten Trainingskleidern durch das verschneite «Pflanzenschutzgebiet Üetliberg» rennt oder auf der Allmend gegen Schatten boxt. Überall, wo er auftaucht, sammeln sich Menschenmassen – sei es beim Kauf eines warmen Wanderschuhs (Grösse 47) im Geschäft Schönbächler an der Langstrasse oder den offiziellen Autogrammstunden, die mitunter den Verkehr lahmlegen. «Alles reisst sich um den ‹Champ›!», titelt der «Blick» auf seiner Frontseite.

«Fragwürdiges Theater»

Derweil müht sich Organisator Hansruedi Jaggi mit dem Verkauf der Vermarktungsrechte ab. Doch keine TV-Station in Übersee will am Stephanstag die Box-Gala aus Zürich übertragen. Der Sportchef des Schweizer Fernsehens richtet aus, sie seien mit dem Spengler-Cup in Davos bereits ausgelastet. Er halte den Kampf zudem «für ein grosses Theater, für sportlich fragwürdig». Der heimische Sender wird am 26. Dezember eine Mitternachtsmesse aus der Kathedrale Freiburg übertragen. Die TV-Rechte sichert sich letztlich nur eine britische Privatgesellschaft, zu einem äusserst niedrigen Betrag. Um den Einnahmeverlust zu kompensieren, erhöhen die Organisatoren den Preis für die teuersten Sitzplätze beim Boxring auf 440 Franken. Zudem gelingt es Jaggi, die Gage von Ali um 50 000 Dollar zu drücken.

Als um 22 Uhr 30 der weihnachtliche Kampf beginnt, ist das Hallenstadion mit rund 6400 zahlenden Zuschauern nur halb voll – unter den Prominenten: Bernhard Russi, Ferdy Kübler oder Clay Regazzoni. Geboten wird jedoch alles andere als ein Schaukampf, sondern «absolut ernsthaftes, umstrittenes, hochstehendes und begeisterndes Boxen», wie der «Sport» berichtet. Ali sei «noch immer der schönste, eleganteste und technisch ausgefeilteste Schwergewichtsboxer», schwärmt die NZZ. Der Deutsche Blin schlägt sich zwar überraschend gut, hat letztlich aber keine Chance und bricht in der siebenten Runde zusammen. 

«Sieben Runden steht nicht jeder gegen Ali durch», gibt Blin zufrieden zu Protokoll, der nur Tage nach seinem Karriere-Highlight wieder in Hamburg in der Schlachterei steht. Für Muhammad Ali ist der Kampf in Zürich indes nur eine Fussnote seiner Biografie. 1974 schlägt er im «Rumble in the Jungle» in Kinshasa George Foreman K. o. und holt sich den Weltmeistertitel zurück, den er im Jahr darauf im «Thrilla in Manilla» gegen Joe Frazier verteidigt. 

Und die Organisatoren des denkwürdigen Boxspektakels im Hallenstadion? Für sie endet die zehntägige Ali-Mania in einem finanziellen Fiasko. Das Defizit beträgt über 800 000 Franken – für die Jaggi und sein Investor, ein deutscher Industrieller, schliesslich geradestehen.

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