Kampf um die Krone

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21.03.2021 20:31 Uhr
NZZ am Sonntag, Bertram Job

Anthony Joshua und Tyson Fury sind endlich bereit, die Frage nach dem König im Schwergewicht im Ring zu klären. Die Aussicht auf jeweils 100 Millionen Pfund für zwei Duelle mag geholfen haben. Von Bertram Job  

Es gibt wenig Peinlicheres als zwei Berufsboxer, die den Weg zum Kampf im Ring nicht finden wollen – und sich gegenseitig die Schuld daran zuweisen. Dabei prasseln in der Regel Vorwürfe statt Geraden oder Haken auf den anderen ein, gemeinhin geht es darum, dass der potenzielle Gegner dem Duell durch überhöhte finanzielle Forderungen ausweichen wolle. 

Vor diesem Hintergrund gilt die Nachricht des amerikanischen TV-Senders ESPN von Anfang Woche als Erleichterung. Die Lager der Schwergewichts-Weltmeister Anthony Joshua und Tyson Fury haben sich definitiv auf zwei Kämpfe im Frühsommer und im Spätherbst geeinigt. Joshua ist Weltmeister von drei Verbänden, WBA, IBF und WBO, Fury von einem, der WBC. Vier anerkannte Verbände gibt es insgesamt. In Match und Rematch soll geklärt werden, wer von ihnen der Bessere ist – was freilich nur funktioniert, wenn zweimal derselbe gewinnt.

Doping und Depressionen

Damit endet ein seltsames Gezeter, das sich über Jahre hinwegzog. Anthony Joshua fühlt sich als Top Dog in der Klasse aller Klassen, seit er zu Ostern 2017 Wladimir Klitschko bei einem dramatischen Kampf im ausverkauften Wembley-Stadion in den Ruhestand versetzt hatte. Entsprechend verhandeln sein alerter Promoter Eddie Hearn und der 31-Jährige seither mit allen Mitbewerbern mit der Haltung: wir da oben, ihr da unten. 

Tyson Fury vermochte sich dem hierarchischen Dünkel jedoch mit einigem Recht beharrlich zu entziehen. Er hat den jüngeren Klitschko ebenfalls geschlagen, schon Ende 2015, und ist bis heute nicht im Ring entthront worden. Den Titelverlust erledigte der 32-jährige Nachfahre irischer Traveller selbst, als er bald nach dem Triumph physisch wie mental aus der Spur geriet. Er war positiv auf Doping getestet worden und litt an Depressionen. 2017 musste er den WM-Gürtel niederlegen. 2018 gab er sein Comeback.

Es gibt also zwei Männer, Fury und Joshua, die beanspruchen dürfen, «der grosse Zeh Gottes» zu sein. So nannte der amerikanische Schriftsteller Norman Mailer den Nimbus des einhelligen Champions im Schwergewicht. Noch kolossaler als bei den angekündigten Kämpfen – und auch lukrativer – kommt es in dem häufig angezweifelten Showsport selten. Vor diesem Hintergrund kündigte Promoter Hearn, bevor die Tinte auf dem Vertragswerk richtig getrocknet war, schon einmal den «grössten Kampf im Boxen» sowie «eines der grössten Sportereignisse der Welt» an.

In den unbescheidenen Etiketten darf man nicht nur das gewohnte Ballyhoo notorischer Lautsprecher sehen. Tatsächlich erinnert die Konstellation an den ersten epischen WM-Kampf zwischen Joe Frazier und Muhammad Ali, an den zum 50. Jahrestag am 8. März allenthalben erinnert worden ist. Seinerzeit war Ali der Unbesiegte, der den Titel nicht im Kampf, sondern durch Entscheid der Weltverbände (Aberkennung wegen Wehrdienstverweigerung) verloren hatte und dreieinhalb Jahre pausieren musste. 

Dieser Part fällt nun dem nicht weniger grosssprecherischen Fury zu. Der 2,06 Meter grosse Exzentriker hat fünf der sechs Vergleiche nach zweieinhalbjähriger Ring-Abstinenz gewonnen (ein Remis) und im Februar 2020 auch Deontay Wilder besiegt – den schlaggewaltigen WBC-Champion aus Alabama, der bis dahin noch ohne Niederlage gewesen war.

Joshua wiederum ist ähnlich wie Frazier der einstige Olympiasieger, der bei den Profis inzwischen zum Dominator aufgestiegen ist. Seine einzige Niederlage in 25 Kämpfen gegen Andy Ruiz jr. (Juni 2019) hat er sechs Monate später im einseitigen Rückkampf korrigieren können. Und seine imposante K.-o.-Quote – 22 von 24 Siegen erreichte er vorzeitig – weist den 1,98 Meter grossen Modellathleten mit nigerianischen Wurzeln nach wie vor als echte Gefahr für jeden Gegner aus. Auch wenn ihm nachgesagt wird, ein «Frontrunner» zu sein, der Widersacher mit seiner Physis und harten Treffern aus der Distanz einschüchtert, aber unsicher wird, sobald jemand ernsthaft dagegenhält.

Der Vergleich mit der berühmtesten Schwergewichts-Fehde des 20. Jahrhunderts mag gewagt erscheinen – ganz von der Hand zu weisen ist die historische Dimension nicht. Wie 1971 in New York wird es diesen Juni oder Juli an einem noch nicht bekannten Ort um die Titel aller anerkannten Verbände gehen – nur dass es deren jetzt vier sind statt zwei. Das ist seit je die Voraussetzung für den inoffiziellen Status eines «undisputed Champion», der letztlich am schwersten wiegt. Der interessierte Teil der globalen Öffentlichkeit verlangt schliesslich bloss nach einem wahren König im Reich der Schwergewichte, analog zu dem einen Weltmeister in der Formel 1. Und wie oft kommen solche Gipfel mittlerweile noch ­zustande?

Das kostbare Gütesiegel erkämpfte sich der 21-jährige Mike Tyson, als er im August 1987 durch seinen Punktsieg über Tony Tucker den dritten und damals letzten wichtigen Gürtel (IBF) eroberte. Ihm folgten mit James «Buster» Douglas, Evander Holyfield, Riddick Bowe und dem Briten Lennox Lewis seitdem gerade vier Schwergewichte nach. Dabei zählt der 13. November 1999, an dem «Double L» in Las Vegas Evander Holyfield ausboxte, als vorerst letztes Duell um sämtliche Titel (WBA, WBC, IBF). Denn weder Vitali noch Wladimir Klitschko vermochten danach während ihrer erdrückenden Herrschaft je alle der nunmehr vier wichtigsten WM-Kronen auf sich zu vereinigen; sie teilten brüderlich.

Man darf demnach guten Gewissens von einem ganz besonderen Tag für den Boxsport sprechen, wenn «AJ» und der «Gypsy King» in einigen Monaten aufeinandertreffen. Laut dem Promoter Hearn, der die Optionen sondiert, soll die Begegnung in «einem Land, das sich präsentieren will» stattfinden. Das könnte ebenso gut auf das saudiarabische ­Diriyah verweisen, wo Hearn Ende 2019 auch Joshuas Revanche gegen Ruiz jr. steigen liess, wie auch auf Katar oder Dubai. Hier wie dort wären die gigantischen Börsen, um die es geht, ohne grössere Probleme zu stemmen. Die Rede ist immerhin von 100 Millionen Pfund pro Kampf für beide Lager – aufzuteilen im Verhältnis 50:50 beim ersten Duell und 60:40 für dessen Sieger beim zweiten. 

Eine rein britische Angelegenheit

Die britische Box-Nation profitiert dabei in jedem Fall, zumindest moralisch. Sie ist leidgeprüft, weil ihre Hoffnungsträger in der höchsten Gewichtsklasse allzu oft «the other guy» blieben: tapfere Herausforderer, die am Ende verlieren. Die schwarze Serie reicht vom walisischen Bergarbeiter Tommy Farr (gegen Joe Louis) über den Londoner Don Cockell (Rocky Marciano), Henry Cooper bzw. Brian London (beide Cassius Clay) bis zu Frank Bruno (Tim Witherspoon und Mike Tyson) und David Haye (Wladimir Klitschko). Der New Yorker Boxexperte Bert Randolph Sugar sagte einmal sarkastisch: «Es ist Teil und Ballast der britischen Mentalität, instinktiv jeden Mann zu bewundern, der eine Niederlage wie einen Sieg klingen lässt.»

In diesen Tagen bilden der Olympiasieger aus Watford und der unorthodoxe Selfmade-Mann aus Manchester jedoch zweifellos die Doppelspitze im obersten Limit. In den unabhängigen Ranglisten der Website Boxrec und des Boxmagazins «The Ring» werden sie als Nr.1 (Fury) und als Nr.2 geführt. So ist ihr Aufeinandertreffen gleichzeitig beides: eine rein britische Angelegenheit und der ultimative Showdown um die Weltherrschaft in ihrem Limit. 

Fast überflüssig zu erwähnen, dass beide wissen, wie sie ihn gewinnen werden. So heisst es, dass Joshua seit dem Winter «wie ein eingesperrter Löwe» trainiere. Das lässt zumindest sein Promoter verlauten. Fury hingegen hat nach eigenen Angaben alle Mühen eingestellt, um ab sofort «bis zu zwölf Pints» Bier täglich zu trinken. Eins zu eins abkaufen sollte man Auskünfte dieser Art allerdings nicht. Das galt schon 1971 für Ali und Frazier.

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