Sara-Joy Rae. Erfolgreiche Ex-Boxerin im Interview mit der NZZ

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24.03.2021 08:24 Uhr
NZZ vom 23.03.2021, Kathrin Alder, Larissa Rhyn, Basel / JS

Sara-Joy Rae bestritt im Olympischen Boxen 43 Kämpfe und war mit drei Schweizermeistertiteln (2012, 2015 und 2016) höchst erfolgreich. Im Interview mit der NZZ gibt sie interessante Einblicke in ihr Berufsleben.

Jack Schmidli, Webpublisher

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«Manchmal tut man ihnen mit einer Strafe den grössten Gefallen»

Im Pandemiejahr sind in der Schweiz so viele Jugendliche kriminell geworden wie seit zehn Jahren nicht mehr. Die Jugendanwältin Sarah-Joy Rae setzt alles daran, dass aus ihnen keine lebenslangen Straftäter werden – oder ein zweiter «Fall Carlos». 

Kathrin Alder, Larissa Rhyn, Basel 

Dario und Pascal sind Brüder. Beide sind gewalttätig, begehen schwere Straftaten. Und beide landen bei der Basler Jugendanwältin Sarah-Joy Rae. Dann trennen sich ihre Wege. Dario lebt heute ein normales Leben. Pascal steht vor dem Nichts. 

Der Fall von Dario und Pascal, die beide eigentlich anders heissen, liess die Juristin und Anwältin Rae über Jahre nicht mehr los. Gemeinsam mit ihrem Team tat sie, was sie konnte. Sie hörte die Brüder und die Eltern an, liess das Umfeld der Buben durchleuchten. Sie begleitete die beiden über mehrere Jahre, schlug immer wieder neue Therapien vor. Dario ergriff die Chance. Pascal nicht. 

Wie kann es sein, dass einer der Brüder den Rank gefunden hat, der andere aber nicht? Wie geht Rae als Jugendanwältin mit solchen Fällen um? Und wie arbeitet jemand, der dafür sorgen soll, dass aus kriminellen Jugendlichen keine lebenslangen Straftäter werden? 

Die Zahl der Kinder- und Jugenddelikte in der Schweiz war im Corona-Jahr so hoch wie seit zehn Jahren nicht mehr. 10 551 Straftaten von Minderjährigen sind in der Kriminalstatistik 2020 aufgeführt, die am Montag veröffentlicht wurde. Das sind fast 800 Fälle mehr als 2019. Deutlich mehr Jugendliche wurden bei Diebstählen und Raub erwischt, zugenommen haben zudem Tätlichkeiten und schwere Gewaltstraftaten. In einem Punkt gibt es gar einen erschreckenden Rekord zu verzeichnen: Noch nie gab es so viele Tötungsdelikte. Das gilt sowohl für die Gruppe der 10- bis 14-Jährigen als auch für die 15- bis 17-Jährigen. 

Auch in Basel-Stadt, wo Sarah-Joy Rae seit knapp neun Jahren auf der Jugendanwaltschaft arbeitet, wurden letztes Jahr deutlich mehr Minderjährige straffällig. Die 39-Jährige ist Chefin und leitet ein Team von Jugendanwälten, spezialisierten Kriminalpolizisten sowie Mitarbeitenden aus dem Sozialbereich und dem Sekretariat. Sie fällt und verfasst Entscheide, überprüft Vollzugsverfahren, hält Aussprachen mit Eltern und Jugendlichen. Wie «kleine Gerichtsverhandlungen» seien diese, sagt Rae. 

Anwältin und Richterin in einem 

Kinder und Jugendliche, die delinquieren, bekommen nicht nur geringere Strafen als Erwachsene. Das Vorgehen ist auch komplett anders. Rae redet mit den jungen Männern und Frauen, muss sie einschätzen, gewinnt im Idealfall ihr Vertrauen. Gleichzeitig muss sie mit Sanktionen auf ihre Straftaten reagieren. Sie kann eine Massnahme veranlassen, etwa eine Therapie, oder – im äussersten Fall – eine Fremdplatzierung. Vor Gericht werden nur die sehr schweren Fälle behandelt. Letztes Jahr waren es neun aus über tausend. Meistens ist Rae also Staatsanwältin und Richterin in einem. Und auch ein wenig Verteidigerin: «Manchmal tut man ihnen mit einer Strafe den grössten Gefallen.» 

Die Gespräche mit den Jugendlichen sind oft schwierig. Manche müssen in Haft oder eine Massnahme absolvieren, nicht alle akzeptieren das. Dann kann es brenzlig werden. Jedes Büro hat einen Alarmknopf, gedrückt hat ihn Rae noch nie. Und doch: Erst kürzlich erlebte sie eine heikle Situation. Ein Jugendlicher wurde in ihrem Büro laut, stiess zuerst seinen Stuhl um und versuchte dann dasselbe mit dem Schreibtisch. 

Frau Rae, haben Sie manchmal Angst in Ihrem Job? 

Nein, ich musste noch nie Angst haben. Ich kenne die Jugendlichen und kann gut einschätzen, mit welchen es schwierig werden könnte. In solchen Fällen hole ich die Kollegen von der Kriminalpolizei dazu. 

Sie sind mehrfache Schweizer Meisterin im Boxen und treten als Doppelbürgerin an internationalen Wettkämpfen für Jamaica an. Gibt Ihnen das Boxen Sicherheit? 

Boxen ist für mich wie für andere Velofahren. Also ein Hobby, ein Ausgleich zum Tag am Schreibtisch. Natürlich ist es gut zu wissen, dass ich mich wehren kann. Wenn ich mich aber im Arbeitsalltag verteidigen müsste, würde ich mein Gegenüber höchstens wegstossen und sicher nicht boxen. 

Werden Erwachsene zu Tätern, ist das Prozedere klar: Die Tat bestimmt die Strafe. Von besonderen Umständen abgesehen, erhalten zwei Personen, die zusammen eine Bank überfallen haben, die gleiche Strafe. Rae hat nur kurz auf der «normalen» Staatsanwaltschaft gearbeitet: «Die Erwachsenen haben vor Gericht noch nicht einmal einen Namen, als Staatsanwältin spricht man einfach von den Beschuldigten.» Viel besser gefällt ihr der Ansatz im Jugendstrafrecht: Nicht die Strafe steht im Vordergrund, sondern die Jugendlichen. Das Ziel ist es, dass sie ihren Fehler einsehen und ihn nicht wiederholen. 

Im Fall der Basler Brüder hat dies bei Dario geklappt. Er kooperierte, bekam seine Aggressionen in den Griff. Rae nennt ihn «einen meiner Vorzeigeschüler». Bei Pascal lief es anders. «Er wehrte sich mit Händen und Füssen gegen alles, was wir ihm je angeboten haben», erinnert sich Rae. Manchmal schlug er auch selbst eine Massnahme vor, doch als es Rae und ihr Team damit versuchten, liess er sich doch nicht darauf ein. Bei ihr meldete er sich höchstens, wenn er etwas brauchte. Zum Beispiel als er sein beschlagnahmtes Handy abholen wollte. 

«Fall Carlos» als Mahnmal 

Meistens sind es Fälle wie jener von Pascal, welche die Jugendkriminalität in den Fokus der Öffentlichkeit bringen. Politiker monieren dann gerne, das Jugendstrafrecht sei zu lasch, fordern härtere Strafen. Ein besonders extremes Beispiel dafür ist der «Fall Carlos», der Medien, Gerichte und Politik noch heute beschäftigt. Er ist an keiner Jugendanwaltschaft spurlos vorbeigegangen. Auch nicht an Rae und ihrem Team. 

Durch den «Fall Carlos» bekam man das Gefühl, im Jugendstrafrecht gehe es nur um teure Sondersettings. War das nicht einfach ein krasser Einzelfall? 

Nein, das war im Grunde kein krasser Einzelfall. Krass ist nur, was daraus geworden ist. Auch wir haben schwierige Fälle, für die wir Sondersettings schaffen müssen. Das ist immer teuer. Aber wir besprechen jede Massnahme zuerst im Team und beantragen sie dann beim Gericht. Wir entscheiden nie alleine über ein Sondersetting. 

Hat der «Fall Carlos» Ihre Arbeit beeinflusst? 

Natürlich. Wir sind vorsichtiger geworden, vor allem im Umgang mit Journalisten. Dieser Fall hätte von den Medien nicht so dargestellt werden sollen. Ich würde einen Jugendlichen nie so den Medien präsentieren. Für «Carlos» ging dadurch viel kaputt. 

Sie glauben, man hätte «Carlos» auf Kurs bringen können? 

Ich kann nicht sagen, ob ihm das damals gewählte Setting tatsächlich geholfen hätte. Aber zum Zeitpunkt, als die Medien sich auf ihn einzuschiessen begannen, hat es noch funktioniert. Die Behörden haben dann auf die Kritik reagiert und das Setting geändert, weil es für zu teuer befunden wurde. Damit hat man «Carlos» massiv geschadet. Gerade für schwierige Fälle sind Stabilität und Vertrauen extrem wichtig. 

Damit es gar nicht erst zu solch schweren Fällen kommt, setzt man in Basel-Stadt stärker auf Prävention als in anderen Kantonen. Es gibt in der Basler Kantonspolizei eine spezielle Abteilung dafür, die sogenannte Jugend- und Präventionspolizei. Sie ist meist in Zivil unterwegs, sucht regelmässig die Hotspots der Stadt auf und spricht die Jugendlichen direkt an. Ihr Ziel ist es, Spannungen zu entschärfen, bevor es zu einer Schlägerei oder anderen Delikten kommt. Die Erfahrungen, die man mit dieser Art von Prävention gemacht habe, seien durchs Band positiv, sagt Rae. 

Besonders gut funktioniert der Einsatz der Spezialeinheit bei sogenannten Trenddelikten, die plötzlich gehäuft auftreten. Ein Beispiel dafür ist das Verschicken von pornografischen Bildern via Smartphone. Die Zahl der Pornografie-Fälle unter Jugendlichen war schweizweit 2019 fast doppelt so hoch wie 2018. In Basel-Stadt hingegen zeichnet sich ein Rückgang ab. Das ist kein Zufall: Jugendpräventionspolizisten sind in die Schulen geschickt worden, um das Thema anzusprechen. Sie bestätigten, was Rae bereits vermutet hatte: Viele Jugendliche wussten nicht, dass sie sich strafbar machen, wenn sie ein Nacktfoto einer Gleichaltrigen weiterleiten oder speichern. 

Plötzlich mehr Drogendelikte 

Während die Prävention bei der Jugendpornografie Wirkung zeigt, hat die Zahl der Betäubungsmitteldelikte im Kanton Basel-Stadt letztes Jahr zugenommen. Und das, obwohl während des Lockdowns die meisten zu Hause blieben und die Grenzen wochenlang geschlossen waren. Aus der höheren Zahl der Fälle lasse sich aber nicht eindeutig schliessen, dass Jugendliche wegen der Pandemie mehr Drogen genommen hätten oder gar zu dealen angefangen hätten, sagt Rae. Weil wenig los gewesen sei, habe die Polizei auch mehr Zeit für Kontrollen gehabt – und dadurch vielleicht einfach mehr Jugendliche erwischt. 

Eines ist für Rae jedoch klar: Je länger die Massnahmen zur Bekämpfung der Pandemie dauern, desto grösser wird der Frust der Jugendlichen. «Sie sind in einer Sturm-und-Drang-Phase und möchten sich ausleben. Im Moment dürfen sie das aber nicht.» Das ist nicht das einzige Problem. Die häusliche Gewalt hat zugenommen. Kinder aus sozial benachteiligten Familien bekunden wegen des ersten Lockdowns Mühe in der Schule. Und Jugendliche haben ihre Lehrstelle verloren, weil Betriebe wegen Corona schliessen mussten. Rae erwartet deshalb, dass die Pandemie längerfristige Folgen haben wird – die sich in der Kriminalstatistik zeigen werden. 

Corona hat auch den Alltag der Jugendanwältin verändert. «Normalerweise wollen wir alle Jugendlichen sehen, die straffällig geworden sind, auch wenn sie nur ein Gipfeli gestohlen haben.» Wegen Corona gebe es aber weniger Verhandlungen. Wenn möglich werden die Fälle schriftlich abgeschlossen, allenfalls folgt ein klärendes Gespräch per Telefon. Die Jugendlichen einzuschätzen, ohne sie persönlich zu treffen, ist deutlich schwieriger. Im Normalfall lernt Rae die jungen Täterinnen und Täter kennen – besonders wenn sie mehrmals zu ihr ins Büro kommen müssen. 

Wachsen Ihnen die Jugendlichen manchmal ans Herz?

 

Gewisse Jugendliche tun mir wirklich leid, weil ihnen in ihrem kurzen Leben schon so viele Steine in den Weg gelegt wurden. Da denkt man erst, man habe es mit einem ganz normalen Jugendlichen zu tun. Dann erfährt man aber aus den Berichten der Schule oder der Kinder- und Jugenddienste, wie sie aufgewachsen sind und was sie schon alles erleben mussten. Auch wenn sie delinquiert haben, ist es eben oft nicht ihre Schuld, dass es so weit gekommen ist. Da blutet mir schon das Herz. 

Können Sie schwierige Fälle nach Feierabend hinter sich lassen? 

Es kommt nicht auf den Schweregrad eines Delikts an, sondern auf die betroffene Person. Bei manchen studiert man herum, fragt sich immer wieder, was man noch tun könnte oder müsste. 

Fällt es dann schwer, professionell zu bleiben? 

Nein. Ich treffe die Entscheidungen ja nie alleine. Wir sind Juristen und können nicht einfach so aus dem Bauch heraus entscheiden, was wir später nicht begründen können. Aber natürlich gibt es Fälle, die einem näher gehen als andere. Ich bin im Team der Jugendanwälte die einzige Frau und die Einzige, die keine Kinder hat. Von den Vätern weiss ich, dass sie einzelne Fälle mit ihren eigenen Kindern verknüpfen. Dann müssen sie sich Mühe geben, das nicht zu nah an sich heranzulassen. 

Eine entscheidende Rolle spielen die Eltern der Jugendlichen. Unterhält sich Rae mit ihnen, will sie wissen: Verteidigen sie ihr Kind, egal was kommt? Oder weisen sie es klar zurecht, wenn es einen Fehler gemacht hat? «Wenn ein 13-Jähriger eine Playstation klaut und die Eltern sagen mir: ‹Wir haben ihm zwei Monate das Handy weggenommen, er hat Hausarrest bekommen und musste den ganzen Herbst das Laub im Garten rechen›, kann es sein, dass wir sagen: ‹Der ist schon genug bestraft.›» Er erhält dann nur einen Verweis. Haben die Eltern keine Konsequenzen gezogen, erhält der Jugendliche eher eine härtere Strafe. 

Auch im Fall von Pascal und Dario waren die Gespräche mit den Eltern wegweisend. Rae und ihr Team beschlossen danach, die beiden Brüder fremdzuplatzieren. Sie wurden an verschiedenen Orten untergebracht. 

Dario zog vom Jugendheim in ein betreutes Wohnen, dann in eine eigene Wohnung. Er schloss erst die Schule ab, später eine Lehre, heute hat er eine Arbeit. Begegnet Rae ihm auf der Strasse, grüsst er sie, die beiden unterhalten sich. 

Seinen Bruder Pascal hat Rae schon lange nicht mehr gesehen. Als Erwachsener hat er noch ein paar Mal gegen das Gesetz verstossen, aber kein grösseres Delikt mehr begangen. «Oder ich weiss zumindest nichts davon», sagt Rae. Sie hat keine Ahnung, wie Pascal heute lebt. Sie weiss nur, dass er weder einen Schul- noch einen Lehrabschluss hat. «Ich gehe davon aus, dass er finanziell von den Eltern abhängig ist.» 

Rae wurde Jugendanwältin, um etwas zu bewirken. Seit dem Fall der beiden Basler Brüder weiss sie aber: Das klappt nicht immer. Gleicher Hintergrund, gleiche Familie, gleiche Möglichkeiten. Und doch entwickelten sich die beiden Brüder völlig unterschiedlich. Das Beispiel zeigt, was es bringen kann, die Jugendlichen nicht nur zu bestrafen, sondern auch zu begleiten. Aber es zeigt auch, dass Reintegration nicht immer gelingt. 

«Das Traurige ist: Wir haben uns an Pascal die Zähne ausgebissen, während wir bei Dario sahen, was wir erreichen konnten», sagt Rae. Vorwürfe macht sie sich keine. Zwei Dinge sind der Jugendanwältin durch den Fall klar geworden: «Es braucht eine minimale Mitwirkung der Jugendlichen, damit wir Erfolg haben können. Was es sicher nicht braucht, sind härtere Strafen.»

 

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