Vor Ali war Sugar Ray Robinson

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03.05.2021 14:47 Uhr
Rod Ackermann (NZZ, 03.05.2021) / JS

Zum 100. Geburtstag des ersten Showmans im Boxring: Robinson gewann 173 Kämpfe, ehe das Leben eine traurige Wende nahm

Wäre die Geschichte von Walker Smith junior, weltberühmt geworden unter dem Boxernamen Sugar Ray Robinson, in Märchenform zu erzählen, so begänne sie wie folgt: Es war einmal ein bitterarmer Landarbeiter im rassistischen Süden der USA, der sich mitsamt Frau und drei Kindern nur mühsam durchbringen konnte. So entschloss er sich, mit seiner Familie nordwärts zu ziehen, ähnlich wie Abertausende anderer Nachkommen von Sklaven und daher lebenslang Diskriminierter. 

Sein Ziel war Chicago, wo Arbeit lockte und ein besseres Leben. Doch auch da musste der Vater sechs Tage pro Woche im Morgengrauen aufstehen und kam erst spätnachts todmüde nach Hause – ein Dasein, das seine Gemahlin nicht lange aushielt. Zusammen mit ihrem am 3. Mai 1921 geborenen Jüngsten, Walker (nach anderen Quellen: Walter) junior, entfloh sie deshalb nach New York. In Harlem, dem Schwarzen-Ghetto des Big Apple, konnte sie damals trotz dunkler Hautfarbe einigermassen anständig leben. 

Nicht lange dauerte es, bis sich der Bub, zwölfjährig und für sein Alter grossgewachsen, fürs Boxen begeisterte. Da er bei allem Talent aber zu jung war, um an Turnieren teilnehmen zu dürfen, borgte sich der pfiffige Teenager die Geburtsurkunde eines älteren Kumpels namens Ray Robinson; das «Sugar» soll etwas später hinzugekommen sein, weil ihn eine Zuschauerin so süss fand. Dieser Trick kam umso gelegener, als die Mama unter keinen Umständen erfahren durfte, was ihr Filius so trieb, wenn er nicht gerade mit den Boys der Nachbarschaft herumzog, auf Schürzenjagd ging – oder die Schule schwänzte. 

Nicht lange dauerte es, bis ein gewisser Sugar Ray Robinson von Erfolg zu Erfolg eilte. Zu lokaler Berühmtheit verhalf ihm, dass sein Amateur-Kampfrekord schliesslich 85 Siege in ebenso vielen Fights aufwies, 69 davon durch Knock-out, gekrönt durch zwei «Golden Gloves»-Titel, begehrte Auszeichnungen der New Yorker Szene. Da war es nicht mehr weit bis zum Wechsel ins Lager der Preisboxer. Zu Geld und Gloria. 

Atemraubende Kadenz 

Bereits der erste Auftritt des 19-jährigen Neu-Professionals, ein K.-o.-Sieg in der 2. Runde, setzte den Ton für die Folge. Die war von atemraubender Kadenz sowie wahrlich märchenhaftem Ausmass. Ab Oktober 1940 stieg Sugar Ray alle paar Wochen in den Ring, ein Tempo, das im heutigen Boxgeschäft mit seinen endlosen Vertragsverhandlungen und lächerlichen Ausweichmanövern undenkbar wäre. Die Gegner fielen reihenweise um, derweil er lächelnd seine Siegerbörse einsteckte und das rasant wachsende Renommee in vollen Zügen genoss. 

Der erste Karriereknick kam nach zweieinhalb Jahren mit 40 Erfolgen im ersten von drei Fights gegen den später als «Raging Bull» bekannt gewordenen Jake La Motta, doch revanchierte sich Sugar Ray umgehend gleich zweifach. Die Legende war geboren. Robinson gewann 1946 seinen ersten Weltmeistertitel im Welter- und 1951 seinen zweiten im Mittelgewicht, allemal begünstigt durch seine für seine Kategorie überdurchschnittliche Körperlänge (180 cm) mitsamt überlegener Reichweite (184 cm). Inzwischen verlängerte sich die Serie seiner Ungeschlagenheit auf 128 Siege, 2 Unentschieden und eine Niederlage. Dergleichen hatte die Welt noch nie gesehen. 

Dem Publikum erschien er als Ausnahmefigur, nicht zuletzt deshalb, weil er die Königsklasse des Schwergewichts – in jener Zeit beherrscht vom müde gewordenen Joe Louis – leichtfüssig in den Schatten stellte. Wenn Sugar Ray boxte, füllten sich die Stadien in New York, Chicago, Houston, Los Angeles, jubelten zu Zehntausenden die Fans. Unerreicht sein Boxstil, eine Mischung von Tempo, Punch und Einfallsreichtum, geprägt durch das Gefühl für Rhythmus. Dies kam ihm auch ausserhalb des Seilvierecks zustatten, tat er sich doch als Stepptänzer hervor. 

Längst war er Weltmeister und Dollar-Millionär, verkehrte im Kreise der Prominenten, besass in Harlem einen Nightclub namens «Sugar Ray’s» und bewegte sich, sein Markenzeichen, in einem rosaroten Cadillac-Cabrio. Die Fachwelt himmelte ihn an, erklärte ihn zum Pfund für Pfund besten Faustkämpfer der Geschichte, fand nichts Vergleichbares. Zwanzig Jahre später sollte Muhammad Ali, «The Greatest», eingestehen, dass er Sugar Ray als Vorbild genommen habe: «Ich habe alles von Sugar Ray gelernt, er war mein Idol.» 

Bald war Amerika für Robinson zu klein geworden, und da im Europa der Nachkriegszeit der Hunger nach allem Amerikanischen gross war, machte er sich auf in die Alte Welt. Sugar Ray, der Herr der Boxringe, trat auf in Paris, in Brüssel, Frankfurt, Berlin, Turin, London und sogar in der Schweiz – 1950 im Genfer Palais des Expositions, 1951 im Zürcher Hallenstadion. Begleitet wurde der Champion allemal von einem imposanten Gefolge, einem wahren Zirkus mit Manager und Chauffeur und Leibkoch, mit Familienangehörigen und echten nebst vermeintlichen Freunden sowie als Maskottchen einem Zwerg, genannt «Arabian Knight». An der Seine fand man dafür den Begriff der Entourage, jener Ansammlung von mehr oder weniger dienstbaren Schranzen, ohne die längst keiner der unzähligen Boxweltmeister auskommt. 

Das Märchen vom Aufstieg des armen Jungen vom Lande zum Weltstar war Wirklichkeit geworden für Sugar Ray; selbst Schwarze konnten es, wie Figura zeigt, im Lande der unbegrenzten Möglichkeiten nach ganz oben schaffen. Dass hinter all der Pracht nicht eine Glücksfee stand, sondern athletische Begabung und unbeirrte Zielstrebigkeit, gepaart mit härtestem Training sowie zähem Verhandlungstalent, wurde gerne übersehen, ebenso der Umstand, dass Sugar Ray privat alles andere als angenehm sein konnte, wie unter anderem Ex-Gattinnen und deren Sprösslinge beteuern. Bei aller «bella figura» war da einer, der den steinigen Weg aus tiefster sozialer Schicht hinauf in die Schickeria nur allzu gut kannte. Der umso besser austeilen konnte, als er von klein auf das Einstecken gelernt hatte. 

Allmählicher Abstieg 

Nicht immer jedoch haben Märchen ein Happy End, und so begann es auch mit Sugar Ray einmal abwärtszugehen. Als 31-Jähriger auf der Höhe seines Boxerruhms zurückgetreten, musste er nach dreissig Monaten Saus und Braus feststellen, dass sämtliche Geldreserven aufgebraucht waren. Als Tänzer und Showfigur wenig erfolgreich, blieb ihm mit bereits 137 Kämpfen am Gürtel nichts anderes übrig, als ein Comeback zu versuchen. 

Zum allgemeinen Erstaunen brachte es der Mittdreissiger fertig, das Publikum abermals anzuziehen, abermals um Landesmeistertitel zu boxen. Doch allmählich häuften sich Unentschieden sowie Niederlagen, das unbarmherzige Gesetz des «They never come back» betraf auch ihn, und als er schliesslich, 44-jährig, für läppische Gagen – manchmal weniger als 1000 Dollar – ins Seilviereck kletterte, erklang der letzte Gong. Die boxerische Schlussbilanz bleibt unerreicht: 200 Kämpfe, 173 Siege (davon 109 durch K. o.), 6 Unentschieden, 19 Niederlagen und 2 «no contests». 

Sugar Ray Robinson war pleite, die schätzungsweise vier Millionen Dollar (nach heutiger Rechnung eine zweistellige Ziffer) seiner Gagen verprasst, das Privatleben ein Chaos, die Gesundheit angegriffen. Mit seiner letzten Gattin zog er an die Westküste der USA, um sich in Culver City, einer Vorstadt von Los Angeles, in einer bescheidenen Behausung niederzulassen. Während sich Ray Leonard, der nach seinem Olympiasieg in Montreal 1976 zu den Profis zog und dort zur dominierenden Figur wurde, zu seinen Ehren «Sugar Ray» nannte, machten sich beim alternden Champ Anzeichen der Alzheimer-Krankheit bemerkbar. 

Noch schlimmer berührt haben muss es den gealterten Champ, nicht mehr im Mittelpunkt zu stehen. Als ihm eine internationale Gruppe von Journalisten Mitte der 1980er Jahre einen Besuch abstattete, um seine Ansicht zu einem in Las Vegas anstehenden Titelkampf im Weltergewicht einzuholen, war allerseits bald klar, dass Sugar Ray, der freundlich Lächelnde und munter drauflos Redende, nicht mehr so recht wusste, worum es da ging. 

Sugar Ray Robinson verstarb am 12. April 1989. Am 3. Mai 2021 wäre er hundertjährig geworden.

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