Der erste «Kampf des Jahrhunderts»

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07.07.2021 17:20 Uhr
NZZ vom 7. Juli 2021 / Bertram Job (JS)

Vor 100 Jahren elektrisiert ein WM-Fight im Schwergewicht zwei Kontinente – der Boxpromoter «Tex» Rickard führt meisterhaft Regie

Bertram Job

Es braucht Mut zum Risiko, drei Jahre nach dem Ersten Weltkrieg einen Kredit über 250 000 Dollar für eine Geschäftsidee zu beantragen – und einen überzeugenden Auftritt, um ihn bewilligt zu bekommen. George Lewis «Tex» Rickard verfügte wie selbstverständlich über beides. Der Farmerssohn aus Kansas hatte zwischen Brasilien, Texas und Alaska als Cowboy und Marschall, Goldschürfer und Betreiber von Spielbanken reüssiert, bevor er ab 1906 im Westen der USA erste Boxkämpfe veranstaltete.

Er spekulierte dabei erfolgreich mit dem Verkauf der Filmrechte, das Kino steckte ja wie der Profisport in den Kinderschuhen, und wusste die Werbetrommel zu rühren. So konnte der geborene Entrepreneur Kampfbörsen vereinbaren, von denen die meisten Faustkämpfer bis anhin nicht einmal zu träumen gewagt hatten. Er selber fuhr satte Gewinne ein.

Gleich mit seiner ersten Veranstaltung in Goldfield, Nevada, stellte Rickard mit 90 000 Dollar Reinerlös eine stolze Marke auf. Im Frühling 1921 peilt er indes ganz andere Dimensionen an. Er investiert die Viertelmillion plus eigene Rücklagen in den Bau einer gigantischen, aus Holz errichteten Open-Air-Arena, die er auf einer freien Fläche in Jersey City, der Hafenstadt mit Blick auf Manhattan, in gut zwei Monaten erstellen lässt. Die «Pine Bowl» (Kiefer-Schüssel) wird zur kolossalen Bühne für den «Battle of the Century». So preist der damals 50-Jährige das transatlantische Duell an zwischen dem amerikanischen Schwergewichtsweltmeister Jack Dempsey und Georges Carpentier, Halbschwergewichtsweltmeister aus Frankreich.

Ein ungleiches Duell

Der Kampf läuft auf ein ungleiches Duell hinaus. Der 26-jährige Dempsey wird als natürliches Schwergewicht eine überlegene Physis und damit den weit stärkeren Punch in den Ring bringen. Die künftige Sportikone hat sich mit dem Sieg gegen Jess Willard (1919) als dominante Kraft in der Königsklasse etabliert und setzt alles daran, die Gegner mit beispiellosem Furor schnellstmöglich zu verschleissen. Carpentier, 27, dagegen ist ein Faustfechter im edelsten Sinne, er hat Titel in fünf Gewichtsklassen erobert. Seine Ausflüge ins Schwergewicht sind jedoch eher sporadischer Natur. 

Doch Rickard ist vielleicht der erste Promoter, der in den Kontrahenten an erster Stelle Protagonisten sieht, die für eine unterschiedliche Herkunft sowie verschiedene Stile und Werte stehen. Die Spannung, die das erzeugt, reichert er mit einer PR-Kampagne effektvoll an.

In der Stadt Jersey bahnt sich am 2. Juli 1921 nicht weniger als die Moderne im Showsport Boxen an. Während 500 Handwerker mit 400 Helfern auf dem zuvor als Baseball-Feld genutzten Gelände von John P. Boyle, den «Boyle’s 30 Acres», die Freiluftarena aus 690 000 Metern Kiefer zusammenzimmern, inszeniert Rickard den Kampf als symbolträchtigen Vergleich. Dempsey verkörpert die neue Welt, Carpentier die alte.

Dempsey ist der ruchlose, brutale «bad guy», der sich vom Einsatz im Ersten Weltkrieg befreien liess. Carpentier ist der smarte, ja elegante «good guy», der in der französischen Armee gedient hat und dafür mit dem «Croix de Guerre» ausgezeichnet wurde. Das sind Gegensätze, die Rickard mit seinem ausgeprägten Instinkt für die öffentliche Stimmung ausschlachtet – selbst wenn das zu Dempseys Lasten geht.

«Gib den Leuten, was sie wollen und wie sie es wollen, nicht, wie du es am besten fändest», lautet eines seiner Leitmotive.

Der erste Titelkampf, der als «Kampf des Jahrhunderts» verkauft wird, setzt auch in anderer Hinsicht neue Massstäbe. Nie zuvor ist eine solche Menschenmasse, offiziell 80 000, zu einem Boxmeeting geströmt. Sehr wahrscheinlich haben sich sogar gut 90 000 Zuschauer in der wenige Tage zuvor fertiggestellten Arena zusammengedrängt. Sie alle ignorieren Vorbehalte und Proteste gegen die Veranstaltung, wie sie etwa von Vertretern verschiedener Kirchenverbände ob des zu erwartenden Zustroms zweifelhafter Charaktere sowie der «Verrohung hiesiger Jugendlicher» vorgebracht werden. Ein demokratischer Kongressabgeordneter aus Massachusetts möchte den Kampf wegen Dempseys Fernbleiben von der Armee gar verbieten lassen – so wie es den Stadtvätern im benachbarten New York gelungen war, bei denen Rickard auch vorgesprochen hatte.

Die Plätze kosten zwischen 50 Cent und 50 Dollar, am Ring sitzen rund 700 Reporter aus allen Ecken der Vereinigten Staaten, aus Kanada, England, Frankreich und Südamerika; die drei Kinder des ehemaligen US-Präsidenten Theodore Roosevelt teilen die Ehrenplätze mit Industriekapitänen wie John D. Rockefeller, Henry Ford und William H. Vanderbilt. Dazwischen werden Kulturgrössen wie der Entertainer Al Jolson, der Zeitungsverleger und Buchautor Ralph Pulitzer sowie der Schriftsteller Damon Runyan gesichtet, 2000 weibliche Zuschauer stehen eher aufseiten Carpentiers alias «The Orchid Man». So viel High Society hatte sich an einem Faustkampf in den Vereinigten Staaten bisher noch nie die Ehre gegeben.

Im Theater live dabei

Oberhalb der vollen Ränge ragt ein hölzerner Turm empor, dort sind die Pressefotografen positioniert. Und am Ring sitzen mit Major J. Andrew White und Harry Welker zwei aufgeregte Pioniere der jungen Rundfunktechnik. White, ein ehemaliger Funker und Amateurboxer, soll den Hauptkampf live über eine Telefonleitung kommentieren. Diese führt in eine wenige Kilometer entfernte Bahnstation im Ort Hoboken, wo er mit Welker und einem weiteren Ingenieur tags zuvor einen Seefunksender samt Antenne installiert hat. Von hier aus wird die Reportage über eine lizenzierte Kurzwellenfrequenz (187 kHz) in jene Theater und öffentlichen Säle übertragen, in denen man dafür Empfänger und Lautsprecher aufgestellt hat. Eine Premiere an einem Titelkampf – und ein Zusatzgeschäft, dessen Erlöse in einen Fonds zum Wiederaufbau Frankreichs fliessen.

So geht Major Whites Stimme als die der ersten Live-Reportage einer Box-Weltmeisterschaft in die Geschichte ein. Der 22-jährige New Yorker beginnt schon während der Vorkämpfe, vom sportlichen Geschehen zu berichten: «Nieselregen fällt, während Packey O’Gatty und Frankie Burns kämpfen. Es ist die letzte Runde, und ‹Tex› Rickard hat soeben bekanntgegeben, dass Jack Dempsey und Georges Carpentier um drei Uhr nachmittags, ‹rain or shine›, um die Weltmeisterschaft boxen.»

Wie viele Hörer diese Schilderungen verfolgen, wird nie eindeutig geklärt. Manche sprechen von 300 000, andere halten 50 000 für realistischer – ausserhalb der Abspielsäle gibt es zu der Zeit nur ein paar Funk-Enthusiasten mit eigenem Empfangsgerät. Gesichert ist dagegen, dass die Sendung in einem Radius von etwa 250 Meilen gut zu empfangen ist. Und auch, dass sich der Funktechniker James Owen Smith auf der Sendestation in Hoboken beim Austausch einer defekten Röhre gehörig die Hand verbrennt beim Versuch, die laufende Übertragung um jeden Preis zu retten. Nicht zu reden von einer mehrtägigen Sehbehinderung durch die starke Strahlung.

Fotos und Gazetten, Kino und Radio: George Lewis Rickard erkennt die Bedeutung der jungen Massenmedien für den Sport so früh wie kein anderer Impresario. Er hat dieses Radio-Abenteuer nach Kräften unterstützt und wird Dempsey in den nächsten Jahren zum überlebensgrossen Helden sowie ersten Millionär in kurzen Hosen machen. Für ihn selber ist auch gesorgt, «der Kampf des Jahrhunderts» ermöglicht das erste «million dollar gate», also die erste siebenstellige Einnahme in der Geschichte des Boxens. Bis 1927 werden vier weitere mit Rickards Goldesel Dempsey folgen.

Ein kurzes Schauspiel

«Der Kampf des Jahrhunderts» ist ein sehr kurzes Schauspiel. Carpentier, der zu den Klängen der Marseillaise in den Ring steigt, kann seinen Gegner ab und zu mit überlegener Technik düpieren; nachhaltige Wirkung hinterlässt das bei Dempsey nicht. «Er schüttelte meine Schläge ab, als hätte ich ihm mit der flachen Hand einen Klaps gegeben», wird der Herausforderer später erzählen. Seine Situation ist ab der zweiten Runde, als er sich bei einem eigenen Treffer den Daumen der Schlaghand bricht, so gut wie aussichtslos. Sein Gegner marschiert und schlägt zerstörerische Haken, bis der Franzose in Runde 4 zwei Mal zu Boden geht. «Der Ringrichter zählt», kommentiert White das Ende – und: «Carpentier macht keine Anstalten, sich zu erheben. Sechs, sieben. Er sinkt auf den Boden. Neun, zehn, der Kampf ist vorbei!»

Die zehneinhalb Minuten dieses Nachmittags haben zwei Kontinente elektrisiert. In Paris drücken sich viele, in Erwartung der Eilmeldung vom Kampf, an den Schaufenstern der Zeitungsverlage die Nasen platt. In New York City verbreitet sich das Resultat durch Augenzeugen, die mit dem Tram, per Fähre über den Hudson oder mit Sammeltaxis heimkehren. Sehr schnell erfährt der Rest der Welt die Neuigkeit: Dempsey bleibt Weltmeister und Carpentier der Champion der Herzen, der bis zur Abreise auch noch die amerikanische Kulturelite für sich einnimmt – etwa George Gershwin, Douglas Fairbanks senior, Pearl White und Charlie Chaplin.

1,8 Millionen Dollar Einnahmen

Es gibt also nur Gewinner nach diesem denkwürdigen Ereignis, das den Faustkampf unvermittelt ins Jahrhundert der Massenmedien schubst. Das gilt für Carpentier ebenso wie für Dempsey, der zum Volkshelden reift – aber nicht zuletzt auch für «Tex» Rickard. Der erste echte Box-Tycoon darf sich über globale Aufmerksamkeit und Gesamteinnahmen in Höhe von exakt 1 789 238 Dollar freuen. Davon kann er ohne Mühe die Kampfbörsen (300 000 für Dempsey, 200 000 für Carpentier) entrichten wie auch den Kredit bedienen – sowie mittelfristig ein Privatvermögen anhäufen, mit dem er den Neubau des Madison Square Garden in Manhattan finanziert. Die Arena wird im Volksmund schnell «the house that Tex built» (das Haus, das Tex gebaut hat) genannt.

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