«Eine Atmosphäre der Angst»

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01.10.2021 14:27 Uhr
Bertram Job / NZZ vom 02.10.2021 (JS)

Eine Untersuchung des renommierten Sonderermittlers Richard McLaren deckt auf, dass im olympischen Boxen systematisch betrogen wurde

Bertram Job

Um den heissen Brei herumzureden, ist nicht die Sache von Richard McLaren. Der weisshaarige Gründer und CEO der unabhängigen Agentur McLaren Global Sports Solutions (MGSS) kommt gern schnell auf den Punkt, um Zusammenhänge klarzustellen. Und so hat sich sein kanadisches Unternehmen innert kurzer Zeit zu einem renommierten Ansprechpartner in Sachen Ethik und Governance für Verbände und Institutionen im Sport gemausert. Das galt 2016, als er mit dem nach ihm benannten Report den systematischen Dopingbetrug im russischen Sport nachwies, wie auch jetzt, bei der Vorstellung der ersten Resultate einer Untersuchung im Auftrag der Aiba, des Weltverbands fürs olympische Boxen.

Mitmachen – oder Karrierenende

Ja, es gebe Korruption in deren Rängen, hielt der Kanadier in Lausanne bei einer Videokonferenz für internationale Medienvertreter unumwunden fest – und diese sei rund um das olympische Turnier 2016 in Rio de Janeiro nicht bloss punktuell, sondern systemischer Natur gewesen. Das ist die Folgerung aus zahlreichen Gesprächen, vor allem mit damals eingesetzten Ring- und Punktrichtern. Diese hatten im Zuge der viermonatigen Untersuchungen von regelrechten «Befehlen» gesprochen. Laut ihren Angaben erhielten sie von den mächtigsten Funktionären sowie den ranghöchsten Ring- und Punktrichtern, den «Five-Star-Officials», am Morgen von Wettkampftagen regelmässig Order, welcher Athlet in welchem Kampf zu bevorzugen sei.

«Die Qualifikationswettbewerbe auf dem Weg zur Teilnahme an den Olympischen Spielen 2016 waren der Übungsplatz für die Korruption und Manipulation bei den Kämpfen in Rio», heisst es in dem zeitgleich vorgelegten, 149-seitigen «vorläufigen Bericht» der Agentur. Diese Praxis sei in Vorbereitung auf Rio dann weiter verfeinert worden. 

Die Saat für die perfide Methode wurde nach Überzeugung der Ermittler allerdings schon viel früher gelegt, «beginnend zumindest mit den ersten Olympischen Spielen im 21. Jahrhundert». Und diese habe so reibungslos funktionieren können, weil die sorgsam ausgewählten Funktionäre nur eine Wahl gehabt hätten: mitmachen, um weiter bei den grossen, prestigeträchtigen Wettbewerben zu wirken, oder auf dieser Ebene keine Rolle mehr spielen.

«Entscheidende Personen hatten beschlossen, dass die Regeln des Fairplay für sie nicht gelten», so resümierte McLaren die Befunde der Kommission. In der Folge habe «eine Atmosphäre der Angst, der Einschüchterung und des Gehorsams» in den Reihen der Ring- und Punktrichter geherrscht.

Merkwürdige Details

Der erfahrene Sportrechtler mochte noch keine Namen von Aktiven nennen, die durch die Manipulation in Rio klar benachteiligt worden sind: Da die Punktezettel erst vor gut einer Woche zur Verfügung gestellt wurden, seien sie noch nicht restlos ausgewertet. Bereits jetzt aber wurden von seinem Team bei neun Kämpfen merkwürdige Details festgestellt. Nicht eingerechnet sind dabei jene zwei Kämpfe, deren Ausgang von Beobachtern seit je stark angezweifelt werden: der Viertelfinal im Bantamgewicht zwischen dem russischen Sieger Wladimir Nikitin und dem Iren Michael Conlan sowie der Final im Schwergewicht zwischen dem russischen Sieger Jewgeni Tisch­tschenko und dem Kasachen Wassili Lewit. In beiden Fällen stand das Verdikt der Juroren in krassem Kontrast zum Kampfverlauf.

Für den «Geist der Missachtung der Regeln» sind für McLaren mittelbar auch der damalige Aiba-Präsident Wu Ching-kuo aus Taiwan und der Exekutivdirektor Karim Bouzidi verantwortlich – zwei mächtige Männer, die aus der Führungsspitze des Verbands inzwischen verschwunden sind. So fiel es dem neuen Präsidenten Umar Kremlew relativ leicht, die jüngsten Befunde der McLaren-Kommission zu loben. Er und seine Mitstreiter wollen McLaren eingeschaltet haben, weil sie «nichts zu verbergen» hätten, so Kremlew. 

Der im letzten Dezember gewählte starke Mann aus Russland möchte sicherstellen, «dass Boxer einen fairen Kampf bekommen» – letztlich aber auch, dass der Weltverband endlich aus der Schusslinie kommt. Nur dann kann der Verband etwas von dem Vertrauen zurückgewinnen, das ihm das Internationale Olympische Komitee entzogen hat, mitsamt der Organisation des olympischen Turniers in Tokio.

Im höchsten Olymp verfolgt man die angemahnte (und vollmundig versprochene) Erneuerung des Boxverbands so aufmerksam wie skeptisch – gerade vor dem Hintergrund, dass Kremlew als Kandidat der alten Garde im Weltverband gilt. So könnten sich die Ermittlungen, allen gravierenden Befunden zum Trotz, als zweiter Schritt zu einem besseren Ansehen innerhalb der olympischen Familie erweisen. 

Bald noch mehr Ergebnisse

In einem ersten Schritt hatte man schon alle angezweifelten Ring- und Punktrichter des olympischen Turniers von Rio de Janeiro in die Wüste geschickt. Noch aber ist das Mandat der Agentur nicht vorbei: Im November und im nächsten Frühjahr will McLarens Team die Ergebnisse des zweiten und des dritten Teils der Untersuchungen vorlegen.

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