Als «The Greatest» in Zürich boxte

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25.12.2021 14:06 Uhr
Rod Ackermann / Neue Zürcher Zeitung NZZ / JS

Gar wundersame Weihnachtsmär erreichte das Schweizervolk vor fünfzig Jahren. Muhammad Ali, «The Greatest», würde am Stephanstag nach Zürich kommen und auf seinem Weg zur Rückeroberung des Weltmeistertitels im Schwergewichtsboxen einen Kampf bestreiten. So zumindest behauptete es ein kecker Jungunternehmer namens Hansruedi Jaggi, in seiner Hand die signierten Verträge. 

Doch siehe! Die Botschaft klang erstens allzu kühn, und ungeheuer teuer drohte zweitens das Vorhaben zu werden, weshalb die Herzen der Schweizer Sportfans keinen Tick höherschlagen mochten. Kam verschlimmernd dazu, dass Ali damals weltweit als Symbol für Revolutionäres galt, als Idol der aufmüpfigen 68er Jugend. Gewissen Kreisen war er daher doppelt verdächtig. So einer bei uns, und das erst noch zum Christfeste? 

Das Schweizer Publikum wolle nach Weihnachten den Spengler-Cup sehen, befand man beim Fernsehen DRS (wie der Laden damals hiess), und überhaupt sei ein Boxkampf mit Ali «ein grosses Theater und sportlich fragwürdig». Die kaum verhüllte Drohung: Ohne Television würden die Veranstalter eine Riesenpleite einfangen. Dass in jener Zeit jeweils Hunderttausende mitten in der Nacht aufstanden, um die aus Übersee direkt übertragenen Auftritte von Ali mitzuerleben, schien die Leutschenbacher nicht zu beeindrucken.

 

Der spinnt doch 

Umso mehr sprachen sie all jenen aus dem Herzen, die nicht nur etwas gegen den US-Kriegsdienstverweigerer und bekennenden Anhänger der «Black Muslim»-Bewegung hatten, sondern auch gegen den langhaarigen, provozierend bunt gekleideten und sich per Ferrari oder Rolls-Royce fortbewegenden Jungmanager Jaggi. Gegen den Wagemutigen, der sich scheinbar Unmögliches in den Kopf gesetzt hatte. Über den es, dem landesüblichen Standard der Biederkeit gemäss, nur ein Urteil geben konnte: Der spinnt doch. 

Begründete Zweifel an Jaggis Vorhaben hegten indes nicht allein jene, die das angeblich gesunde Volksempfinden zu repräsentieren behaupteten. Gemäss Rodolfo Sabatini, einem führenden italienischen Promoter, kann «niemand in Europa» Ali bezahlen. Und Bernhard Meier, Jaggis Zürcher Anwalt, warnte seinen Klienten: «Das bringen Sie nicht hin!» 

Dessen ungeachtet hielt Jaggi an seinem Projekt fest. Unterstützung kam praktisch einzig vom «Blick» – nicht zuletzt deshalb, weil dessen boxbegeisterter Sportreporter Mario Widmer als Pressechef angeheuert worden war. Sonst aber: nichts als Spott und Hohn und die kalte Schulter der Öffentlichkeit. 

Wie anders hatte sich Jaggi, «das tapfere Schneiderlein aus der Limmatstadt» (so das «Hamburger Abendblatt»), die Sache ursprünglich vorgestellt. Auch deshalb, weil er vier Jahre zuvor – als damals knapp 26-Jähriger und totaler Aussenseiter im Musikbusiness – zur allgemeinen Verblüffung die Rolling Stones für ihr erstes Schweizer Konzert nach Zürich geholt und damit einen Riesenerfolg erzielt hatte. 

Darauf doppelte er mit dem Engagement von Jimi Hendrix nach. Getreu der Maxime von Walt Disney, der nach seinem Filmhit mit den drei kleinen Schweinchen befand, man könne «Schweinchen nicht mit Schweinchen toppen», hatte sich Jaggi danach Neues und Besseres ausgedacht: «Jetzt hole ich Muhammad Ali!» 

Mehrmals flog er, bar jeglicher Englischkenntnisse beziehungsweise Kontakte im Boxgeschäft, in die USA. Dort lachten sie ihn erst einmal aus, schauten dann jedoch hin, begannen zuzuhören – und unterschrieben schliesslich. So musste sich Jaggi auf die Suche nach Geldgebern machen. Wie und wo die Mittel zusammenkommen würden, davon hatten allerdings weder er noch sein Geschäftspartner Peter Heutschi, damals 32-jährig, die leiseste Ahnung. 

Hoffnungsfroh begann das Duo, reiche Schweizer anzupeilen. Die liessen sie abwimmeln, das Haus Brown & Boveri mit der Begründung: «Wenn Sie etwas Technisches haben, können Sie wieder kommen.» Angegangen wurde zwecks Patronat auch der Zürcher Stadtpräsident Sigi Widmer, er gab zur Antwort: «Wenden Sie sich gescheiter an den Eidgenössischen Turnverein.» 

Da tat sich, keinen Augenblick zu früh, unvermutet Hoffnung auf, und zwar in Gestalt eines deutschen Financiers namens Bernd Grohe. Dem Mann wurde nachgesagt, eine Vorliebe für Risikogeschäfte zu haben, Jaggis phantastische Pläne machten ihm denn auch Eindruck. Er liess die Unterlagen durch seine Anwälte prüfen und sagte zu. Damit war ein allfälliges Defizit des Ali-Gastspiels gedeckt – in allerletzter Minute. 

Denn bis dahin war die geldgierige Clique um «The Greatest» stets hingehalten worden, zuletzt mit einer kleinen Bezahlung von 10 000 Dollar (damals 43 000 Franken). Nun aber konnten die dringend geforderten Kreditbriefe endlich geliefert werden: der erste über 150 000 und der zweite, listigerweise mit einer Klausel versehen, über 100 000 Dollar. 

Es blieb bloss noch die Kleinigkeit, das Publikum einschliesslich der damals noch seltenen Fernseh-Privatsender davon zu überzeugen, am Stephanstag ins Hallenstadion Zürich zu kommen, wenn sie nichts Bedeutendes verpassen wollten.

 

Gegen einen Schlachtermeister 

Das Budget betrug 2,5 Millionen Franken, Jaggi und Heutschi kalkulierten mit mindestens 8000 zahlenden Zuschauern (bei einem Fassungsvermögen von 13 000) und Eintrittspreisen von 30 bis 335 Franken, dazu kam der Erlös von Fernsehrechten. Erlöst atmeten die Promoter auf, als Muhammad Ali am 15. Dezember mitsamt Frau, drei Kindern sowie umfangreicher Entourage im Flughafen Zürich der Swissair-Maschine aus New York entstieg. Der Kampf würde, wie somit definitiv feststand, plangemäss stattfinden, die Zweifler, die Neider, die Stänkerer hatten unrecht behalten. 

Sogar einen valablen Gegner hatte man gefunden: den Hamburger Schlachtermeister und Europameisterschafts-Herausforderer Jürgen Blin, der sich für 45 000 Dollar – knapp einen Fünftel der Gage Alis – für kampfbereit erklärte. 

Je näher der Fight rückte, desto mehr Halbseidenes stellte sich ein, um dabei zu sein, will heissen: die Bettelhand zu öffnen. Überdies meldete sich der Präsident des Schweizer Boxverbandes und verlangte ein Scherflein von sechs Prozent der Kampfgagen, dazu verzögerten die lokalen Behörden den Druck der Eintrittskarten – alle wollten plötzlich ihr Stück vom Kuchen. 

Unterdessen trainierte Ali vertragsgemäss jeden Tag öffentlich und klopfte Sprüche, sogar auf Deutsch: «Jürgen Blin – der fällt hin.» An seinen Autogrammstunden in Basel und Spreitenbach kam es zu Menschenaufläufen, derweil sich das zwanzigköpfige Gefolge die Zeit mit dem Verprassen des Geldes vertrieb, das es dem freigiebigen Champ abgeluchst hatte. 

Am Boxsport schien all die Tage kein Bein interessiert zu sein, umso mehr hingegen an allem, was mit Finanzen zu tun hatte. Das mit Abstand teuerste Sportereignis des Jahres in der Schweiz erregte manch braves Gemüt und auch die damalige Sportredaktion der «Neuen Zürcher Zeitung», die unter dem Titel «Eine Million für den Star des Abends» detailliert aufs Monetäre einging, das Faustfechterische aber nur ganz am Rande streifte. 

Dessen ungeachtet hielten die beiden Promoter den Kopf hoch, wenn auch mehr aus Verzweiflung denn aus Überzeugung. Spätestens an Heiligabend hatten sich nämlich die Hoffnungen zerschlagen, in extremis doch noch den rettenden Fernseh-Vertrag unter Dach zu bringen. Immerhin hatte der schlaue Jaggi die Auszahlung des zweiten Kreditbriefes davon abhängig gemacht, dass es gelang, Beträge im selben Umfang aus US-Fernsehrechten zu erzielen. Andernfalls würden die 100 000 Dollar verfallen.

 

Jaggi und die Feuerwehraxt 

Kampfabend! Fast vollzählig am Ring sass die Schweizer Sportprominenz: Bernhard Russi, Clay Regazzoni, Ferdy Kübler und sogar der Schwingerkönig Ruedi Hunsperger. Die Zuschauerränge hatten sich ansehnlich gefüllt, wenn auch nicht in erhofftem Masse. Während oben im Ring die Rahmenkämpfe abliefen, ging es unten in den Katakomben hart auf hart. Bei einer hitzigen Auseinandersetzung zwischen Jaggi und den britischen ITV-Fernsehleuten, die ihre 11 000 Pfund noch immer nicht bezahlt hatten, riss der leichtgewichtige Promoter eine Feuerwehraxt aus der Halterung und schrie: «Wenn das Geld nicht augenblicklich kommt, haue ich die Fernsehkabel durch!» Eine Stunde später war das Bare da. 

Endlich – der grosse Moment! In Violett und Gold steigt Jürgen Blin ins Seilviereck, in Rot und Silber Muhammad Ali. Der «Grösste». In Fleisch und Blut. Alles ist auf den Beinen, das Hallenstadion erbebt unter dem Beifall der 6361 zahlenden und rund 1500 eingeladenen Zuschauer. Hansruedi Jaggi schiesst es durch den Kopf: «Ich habe meine Wette gewonnen.» Und Bernd Grohe, der Mann, der die Kosten der ganzen Bescherung tragen würde, lehnt sich in seinen Ringsitz zurück mit dem Gedanken: «Da sitze ich nun auf dem teuersten Platz des Hauses.» 

Der Fight selber verlief wie vorgesehen. Nach erprobtem Muster liess Ali, leichtfüssig und reaktionsschnell, seinen Gegner erst einmal zappeln, ehe er ihn mit präzisen Treffern ins Wanken brachte. Ein paarmal noch stürzte sich Blin geröteten Kopfes auf seinen übermächtigen Kontrahenten, sank jedoch nach 2:12 Minuten in der siebenten Runde k. o. nieder. 

«Der Grösste» hatte seinen Job erledigt, die Show würde weitergehen.

 

Auf Weihnachtsurlaub 

Am besten resümierte das Geschehen das Ali nicht sonderlich gewogene US-Fachmagazin «The Ring», die vielgerühmte «Bibel des Boxsports»: Der Favorit habe die Angelegenheit behandelt «wie einen Weihnachtsurlaub. Schade, dass Blins Arsenal keinen richtigen Punch aufwies. Als Ali Druck zu machen begann, verfügte der Deutsche über keine Waffe, um sich den Gegner vom Leibe zu halten.» 

Kaum war Blin zum ersten Mal in seiner Karriere ausgezählt und wackelte die Halle unter einem Beifallssturm, sprang Jaggi wehenden Haares in den Ring empor und umarmte den Sieger. Dessen K.-o.-Punch war für ihn wie eine Erlösung, und schon kam ihm der Gedanke an eine weitere Veranstaltung mit Ali. 

Erst einmal jedoch wollte Jaggi, erschöpft vom monatelangen Nervenkrieg, Pause machen. Während sich die Halle allmählich leerte, die Deutschen ihren angeschlagenen Recken in der Garderobe umsorgten und das Camp von Ali bereits an die nächste Party dachte, lenkte er seinen knallroten ­Flitzer mit Ziel Malbun durch Nacht und Nebel. 

Der deutsche Financier, der sich ergeben in den teuersten Platz des Hauses zurückgelehnt hatte, steckte den Verlust – gemäss Abrechnung 826 413 Franken 55, wovon allerdings der zurückbehaltene zweite Kreditbrief von 100 000 Dollar in Abzug zu bringen war – schweigend weg. Jaggi habe keine Schuld getroffen, sagte er zwanzig Jahre später, weshalb er mit ihm befreundet geblieben sei. 

Für den Co-Promoter Heutschi wiederum war es «eine einmalige Lebenserfahrung», die er allerdings nie mehr machen wolle. Er hatte sein ganzes Erspartes draufgegeben. 

Fünfzig Jahre später bleiben ein paar Fragen. Warum begegneten Publikum und Medien dem kühnen Vorhaben eines Jungpromoters mit so viel Missgunst und Neid? Warum entrüsteten sie sich dermassen über angebliche Geschäftemacherei? Warum ritt man so hartnäckig auf dem im Preisboxen unvermeidlichen Negativen herum, statt den Kampf als Kampf zu nehmen und sich darauf zu freuen? 

Fazit: Muhammad Ali war für Zürich, für biedere helvetische Selbstbescheidung eine Nummer zu gross.

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Der Autor sass am 26. Dezember 1971 als Reporter der «Basler Nachrichten» im Hallenstadion am Ring.

 

Aus dem E-Paper vom 22.12.2021

 

 

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