Abgang Gipsy King

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01.05.2022 19:32 Uhr
NZZ am Sonntag / Bertram Jobg / JS

Der grösste Entertainer des Boxens

Tyson Fury galt einst als schlaggewaltiger Rüpel, doch über die Jahre wurde er zum Leuchtturm seiner Sportart. Jetzt tritt er aus dem Ring, und der Boxwelt droht ein Vakuum. 

In zwei Punkten war sich die Boxwelt einig, als ein 27-jähriger, baumlanger Brite im November 2015 den langjährigen Schwergewichts-Weltmeister Wladimir Klitschko besiegte. Zum einen hatten alle sehen können, dass der taktisch kluge Punktsieg in einer Düsseldorfer Grossarena vollkommen verdient war. Zum anderen legte der neue Champion der Königsklasse ein derart selbstherrliches und respektloses Verhalten an den Tag, dass man ihn zunächst für das genaue Gegenteil eines würdigen Botschafters seines Sports hielt.

Diese Einschätzung wurde von dem extrem mitteilsamen Hünen aus der Grafschaft Lancashire in der Folgezeit emsig untermauert. Wo immer er ein Mikrofon entdeckte, bellte der neue Top Dog im Königslimit ungefilterte Häme und horrendes Gedankengut hinein. So erklärte er einmal tatsächlich, dass der beste Platz für eine Frau prinzipiell «in der Küche oder auf dem Rücken» sei, giftete gegen «Zionisten und Juden, denen alle Banken, Zeitungen und TV-Sender gehören», fand Homosexuelle «widerlich» und gab sich überzeugt, «dass es in zehn Jahren vollkommen normal sein wird, sexuelle Beziehungen mit seinen Tieren zu haben».

Nach der Depression die Wandlung

Der allgemeine Schrecken verflog schnell, als der auf über drei Zentner aufgeblähte Titelhalter im folgenden Jahr wegen Drogenabhängigkeit und Depressionen seinen vorläufigen Ausstand bekanntgab: Man war eher froh, die peinliche Fehlbesetzung so schnell losgeworden zu sein. Knapp sechs Jahre später, nach seinem zweiten und möglicherweise definitiven Rücktritt, bietet sich ein völlig anderes Bild. Plötzlich ist in der schwersten und repräsentativsten Klasse des flamboyanten Showsports ein Hohlraum entstanden. Denn trotz allem Trash-Talk stand der selbsternannte «Gipsy King», stolzer Nachfahre irischer Traveller, zuletzt für Konstanz auf allerhöchstem Niveau.

Er war im Ring schliesslich das Mass aller Dinge, der anerkannte Weltbeste geworden. Ein 2,06 Meter grosser Leuchtturm, der mit maximaler Exzentrik nebenher auch eine globale Aufmerksamkeit erregte, die dem Schwergewichtsboxen nach dem Abschied der Klitschkos abgegangen war. Diesen besonderen Nimbus hat sich Fury mit gerade vier Titelkämpfen erworben – und einer imposanten Lernkurve. Im ersten der drei epischen Duelle mit Deontay Wilder, 2018, nötigte er als taktisch gewiefter Aussenseiter dem amerikanischen K.-o.-König ein hochverdientes Remis nach zwölf Runden ab.

Bei der zweiten Begegnung 2020 sicherte er sich in ungewohnt brachialer, offensiver Manier vorzeitig den WBC-Gürtel, und im fulminanten dritten Duell 2021 stand er einfach einmal mehr auf als sein schlaggewaltiger Widersacher. So mochte ihm vor der Titelverteidigung gegen den Landsmann Dillian Whyte am vergangenen Wochenende niemand widersprechen, als er sagte: «Ich habe die grössten Eier in der Geschichte unseres Sports.»

Rund 94 000 Augenzeugen bildeten im ausverkauften Wembley-Stadion eine Rekordkulisse für Boxkämpfe im Nachkriegseuropa, als Fury seinen durchaus geachteten Herausforderer mit einem einzigen Uppercut in der sechsten Runde ausknockte, danach seinen Lieblingssong «American Pie» von Don McLean ins weite Rund trällerte und sich schliesslich in den Ruhestand verabschiedete: «Good night, Great Britain, I love you!» Da zeigte er noch einmal das andere, sympathischere Gesicht eines begnadeten Entertainers und kompletten, sehr fairen Boxers, der in der Stunde der Wahrheit zuverlässig liefert. Sowie das eines verständigen Ehemanns, der allen Macho-Posen zum Trotz auf seine Ehefrau Paris Rücksicht nimmt. Ihr hatte er schon zum Ende der Wilder-Trilogie das Karriereende versprochen.

Er wolle am Wattenstrand von Morecambe, seiner Heimatstadt, endlich in Pension gehen, hatte er vorab angekündigt – «keine Kämpfe mehr und keine Interviews, alle werden mich in Ruhe lassen». Im Zweifel tut man sicher gut daran, ihn auch in diesem Punkt nicht allzu wörtlich zu nehmen – zumal er noch in der Nacht nach dem 33. und letzten Ringduell mit einem Vergleich gegen einen Ultimate-Fighting-Champion im Jahr 2023 kokettierte. Aber die Manager und Impresarios im globalen Boxsport haben nun erst mal ein Problem. Ihnen ist ein Protagonist weggefallen, den dessen Co-Promoter Frank Warren kürzlich ohne Widerspruch als «den grössten Entertainer seit Muhammad Ali» bezeichnet hatte. Ausgerechnet in einer Phase voller Unwägbarkeiten bezüglich der Frage, wie es in der Weltspitze eigentlich weitergeht. Anthony Joshua, der zweite britische Hoffnungsträger, hat seine stattliche Gürtelsammlung (WBA, WBO und IBF) im Herbst 2021 an den ukrainischen Herausforderer Oleksandr Ussyk verloren. Die hilflose Art, in der er sich in diesem Fight präsentierte, lässt für den zum Sommer angepeilten Rückkampf nichts Gutes aus Sicht seiner Anhänger hoffen.

Da sein Nachfolger erst kürzlich aus der ukrainischen Armee in ein Trainingslager in Polen gewechselt ist, könnte es auch länger bis zum Rückkampf dauern. Und ohne Ussyk, Joshua und Fury ist auch der ehemalige WBC- Champion Deontay Wilder aus Alabama im Zweifel wenig geneigt, noch einmal in den Ring zurückzukehren. Finanziell ist der inzwischen 36-Jährige nach den achtstelligen Börsen für seine WM-Kämpfe nicht auf weitere Aktivitäten angewiesen.

Das Geld ist Fluch und Segen

Die exorbitanten Summen, die Pay-TV-Sender und Internetportale den Faustkampfhelden heute bieten, sind in dieser Hinsicht eben Fluch und Segen: Sie machen die Schwergewichte innerhalb weniger Jahre so satt, dass ihre Halbwertszeit an der Spitze merklich kürzer wird. Ausgenommen Wladimir Klitschko: Der einstige Dominator liebäugelt trotz dem grausamen Krieg in seinem Land mit einer Rückkehr in den Ring, wie er einer Boulevardzeitung verriet: Mit 46 Jahren könnte er dann George Foremans Rekord als ältester Schwergewichts-Champion brechen. Aber dass eine ehemalige Grösse die künftige Lösung darstellt, glaubt selbst im aberwitzigen Boxgeschäft keiner so richtig.

 

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