Bei den harten Kerlen

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01.05.2022 19:37 Uhr
NZZ am Sonntag / Linus Schöpfer / JS

Ewig fliegen die Fäuste

Der Mann von heute ist immer lieb und haut niemanden. Was treibt die Männer im berühmtesten Boxklub der Schweiz noch an? Eine teilnehmende Beobachtung.

Der Koloss reibt seine Fäuste.Ich versuche mich zu erinnern: Wie schlägt man den rechten Haken? Aber da setzt es schon den ersten Schlag und den zweiten. Sein Gesicht ist riesig. Eine Mondlandschaft, breit und zerfurcht, die Nase schrumpelig. Ich hätte schon einmal geboxt, habe ich vorher gesagt. Wie ein Dampfhammer auf Federn wippt er herum. Er beginnt zu reden.

Ich solle festhalten: einen Fünfliber mit dem Kinn, ein Couvert mit dem Unterarm und eine Geige mit dem Nacken. Bitte, was? Nächste Haue, nächste Lektion. Die Schläge, doziert der Koloss, seien wie Züge im Schach. «Und das hier» – er tippt mit seiner Führhand auf meine Nase – «ist der König.» Er lächelt unter seinem Mundschutz, ein dämonisches Blecken. Er redet weiter, und ich beziehe weiter Haue. Er redet jetzt von wilden Tieren, von Elefanten, vielleicht auch von Giraffen.

Als unser «Sparring» zu Ende ist, lacht René Schmid herzlich auf. In den 1980ern hatte er es bis ins Halbfinale der Schweizer Meisterschaft geschafft und mit Enrico Scacchia trainiert, dem Italo-Schweizer, der kurz vor dem Weltruhm einknickte. Wir sind im bekanntesten Boxkeller der Schweiz: Mitten in der Stadt Bern, 200 Meter neben dem Bundeshaus, ein paar Meter unter der Erde. Seit 1935 wird im Athletic Box Club Bern geboxt. Manche sind hier, um sich auf den Ring vorzubereiten. Andere, um sich fit zu halten.

«Etwas für Männer»

Von den «Bare-Knuckle-Fights» über die Ära des Muhammed Ali zum körperbewussten Betriebswirt: Das Boxen hat einen langen Weg hinter sich. Seine Gefährlichkeit hat es dabei nie verloren. Es ist der Werwolf unter den Sportarten, seine Aggressivität kann in offene Brutalität kippen. Es ist ein Gefährder des Hirns in der Wissensgesellschaft. Und es reproduziert uralte Männerbilder: muskulöse, halbnackte Athleten, die sich bis aufs Blut beharken. Die mit blossen Fäusten ihren Platz in der Gesellschaft erkämpfen.

Die Soziologin Kath Woodward fand fürs Boxen eine bemerkenswerte Beschreibung: Doing Masculinity. Und die Schriftstellerin Joyce Carol Oates schreibt in ihrem Essay «Über Boxen» mit verblüffender Entschiedenheit: «Boxen ist etwas für Männer, es handelt von Männern, es ist männlich.»

Westliche Gesellschaften sehen diese Hypermaskulinität heute kritisch. Das Boxen erscheint als ein Anachronismus in kurzen Hosen, es wirkt anstössig in Zeiten erhöhter Sensibilität. Ist der herumliegende Boxhandschuh nicht bereits eine Mikroaggression? Eben erst gab es eine Kontroverse um die Berner Boxfans. Die Stadtbehörde wollte ihrem Sport Unterstützungsgelder streichen, beschwichtigte dann aber nach öffentlichem Protest. Man werde das Boxen weiterhin unterstützen.

Ist Boxen der männlichste Sport, René Schmid? Er steht zwischen den Boxsäcken, denkt nach. Natürlich gehe es um Härte und Aggression, sagt er. Aber wenn man durch diese Härte und Aggression hindurchgegangen sei, dann komme man zu seiner weiblichen Seite. «Dann kommt man zur Sensibilität.» Die meisten Boxer seien verletzliche Menschen. «Warum boxen sie? Sie boxen, um sich zu schützen.» Das sei auch bei ihm selber so gewesen.

Männer, die Boxer werden müssen, um sich einer grausamen Welt zu erwehren, die in den Ring steigen, weil sie irgendwie zurückschlagen wollen: Solche Biografien gibt es zuhauf. «Die meisten Kämpfer, die ich kannte, waren tief verletzte Persönlichkeiten», schreibt der Dichter und Boxer George Garrett. Dann aber habe das Boxen mit seinen Anforderungen die Männer derart beschäftigt, dass sich ihre Psyche stabilisierte.

Den Nasenstüber erlernen

«Ohne das Boxen hätte ich mein Lichtlein längst ausgeblasen», sagt René Schmid. Und ich solle mich doch einmal umschauen, wie liebevoll die Leute hier miteinander umgingen. Es stimmt: Im engen Keller – in seiner Mitte ein Ring, die Decke ist tief – wimmelt’s von verschwitzten Menschen, die sich erst in die Mangel nehmen und dann umarmen. Sie werden in einer halben Stunde glücklich und mit frischer Energie wieder an die Oberfläche treten. Und nach ein paar Tagen werden sie zurückkehren zu ihrem Kraftort, dem Boxkeller. Berühmt wurde der Klub in der Nachkriegszeit dank seinem findigen, langjährigen Besitzer, Charly Bühler. Sein Name steht heute noch über der Eingangstür.

Niklaus Meienberg widmete dem Klub eine Reportage, hörte sich bei seinen Kunden um: «Viele Geschäftsherren, die im harten Konkurrenzkampf stehen, boxen bei Charly Bühler regelmässig (...) und präparieren sich so für das Boxen im wirtschaftlichen Überlebenskampf.»

Die heutigen Besitzer sind stolz auf ihre bunte Klientel. Zu Recht: Ihr Keller würde jede Diversity-Vorgabe erfüllen. Manager boxen neben Flüchtlingen, Professoren neben Arbeitern, Frauen neben und gegen Männer. Alle scheinen wegen des friedlichen Abreagierens gekommen zu sein.

Ich wundere mich ein bisschen. Denn mich interessiert das Boxen, zugegebenermassen, noch aus einem anderen Grund. Ich interessiere mich auch dafür, um im Fall der Fälle, wenn einer mir richtig übel will und es wirklich gar nicht anders geht, einen Nasenstüber verpassen zu können. Gut möglich natürlich, dass ich in diesem Moment davonlaufen würde. Wer kennt sich schon so genau? Um das herauszufinden, müsste ich ernsthaft in den Ring steigen.

Fitnessboxen ist nicht das wahre Boxen. Es ist wie Schwimmen im Nichtschwimmerbecken, mit geerbtem Geld durchs Leben gehen, den Tiger hinter Gitterstäben sehen – es ist die harmlose Variante.

Der Boxklub als Ort der Geschichte und der wunderlichen Objekte.Der passivste Sparringpartner. Erst in die Mangel nehmen, dann umarmen: Fitnessboxer.Im Keller trainieren Manager neben Flüchtlingen neben Professoren.

Je älter der Abend wird, desto viriler werden die Boxer im Keller. Der Berner Klub bemüht sich nach einer langen Flaute darum, wieder Spitzenboxer auszubilden. In ein paar Jahren will man wieder einen Schweizer Meister haben. Ich rede mit Trainern und Amateurboxern. Ob im Boxen eine besondere Männlichkeit zum Ausdruck komme, frage ich. Keiner kann das bejahen. Alle reden dafür vom Mut, den es brauche.

Nase gebrochen, Brauen vernarbt

Das ist die eigentliche Irritation des Boxens. Dass sich zwischen den Seilen ein Raum auftut, der existenzielle Extremsituationen provoziert. Dass das Boxen archaische, scheinbar überwundene Merkmale wie «Mut» oder «Kühnheit» reaktiviert. Dass es die Charakterfrage stellt.

Ein Muhammed Ali hätte in Kinshasa auch das Handtuch werfen können. Weltmeister Hagler hätte dankend ablehnen können, als ihn Herausforderer Hearns zum irren Infight einlud. Auch eine einigermassen unglückliche Figur wie Stefan Angehrn nötigt einem Respekt ab – mit seinem Willen, so lange wie möglich stehen zu bleiben. Diese heroische, etwas dumpfe Männlichkeit fordert das Publikum heraus. Wie verhalten wir uns zu den Bildern geplatzter Haut? Zum Nachhallen des Kopftreffers, das Schriftsteller Norman Mailer mit einer Axt verglich, «die in einiger Entfernung auf einen nassen Block schlägt»?

Das Boxen, schreibt Soziologin Kath Woodward, fordere auch von seinem Publikum Nehmerqualitäten. Auch das Zuschauen habe eine maskuline Qualität.

Ich frage einen Amateurboxer, weshalb er in den Ring steige. Er sagt, er folge so seinem «Instinkt» – noch so ein provokativer Begriff. Joyce Carol Oates schreibt in ihrem Essay, beim Boxen trete ein Instinkt zutage, der sich nicht mit der blossen Verteidigung begnügen kann: «Man fragt sich, ob sich das männliche Ego je mit einer derartig harmlosen Erwiderung auf eine Bedrohung zufriedengegeben hat.» Vielmehr gehe es um Unterwerfung. Nur wegen der Absicht der Kämpfer, sich gegenseitig überwältigen zu wollen, entstehe der Thrill des Boxkampfs.

Wie das sei, jemanden K. O. zu schlagen, frage ich einen Amateur. Seine Augenbraue ist vernarbt, die Nase mehrfach gebrochen. In der Euphorie, sagt er, freue man sich zuerst. Dann aber komme sofort die Sorge: Ob es dem anderen wohl gut geht?

Diese wahren, ernsten Boxer bleiben mir ein Rätsel. Welten liegen zwischen ihren Kämpfen und der euphorischen, verspielten Stimmung im Keller.

Nur einmal flackert an diesem Abend so etwas wie Zorn auf. Während ich mit einem älteren, beleibten Herren – ein Unternehmer, der seit 30 Jahren zum Training in den Keller steigt – ein paar Schläge austausche, wird er allmählich ärgerlich. Ich solle aufhören, ihm in die Handschuhe zu hauen. «Auf meine Nase, auf meine Nase!», ruft der Mann. Dann eben auf die Nase.

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