Boxen bietet ein nahezu perfektes Ganzkörpertraining – auch weil bei Freizeitsportlern Kopftreffer tabu sind

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02.08.2022 11:18 Uhr
Stefan Osterhaus, Berlin / JS

Beim Boxen werden alle Muskelgruppen angesprochen. Werden im Training Vollkontakt und vor allem Kopftreffer vermieden, ist es gesundheitlich unbedenklich.

Der Boxsport steht nicht unbedingt im Ruf, gesundheitsfördernd zu sein. Und das ist auf den ersten Blick auch recht gut zu verstehen. Viele ehemalige Weltklasseathleten plagen neurologische Erkrankungen. Floyd Patterson ist nicht der einzige Champion, der an Demenz litt. Auch die Bilder eines von Krankheit schwer gezeichneten Muhammad Ali, bei dem nur wenige Jahre nach dem Ende seiner Karriere im Alter von 42 Jahren Parkinson diagnostiziert worden war, dienen vielen als Mahnung – und als Argument gegen das Boxen.

Die schädigende Wirkung, die Kopftreffer entfalten können, ist wissenschaftlich unbestritten. Kurzzeitig können sie eine Gehirnerschütterung auslösen, langfristig sogar Demenz. Wer das Boxen allerdings nur unter dem Aspekt der Gesundheitsrisiken anschaut, die vornehmlich neurologischer Natur sind, der wird dem Sport als Ganzem kaum gerecht. Selbst eine 2010 veröffentlichte Metastudie im «Deutschen Ärzteblatt», die nach den Gesundheitsrisiken im Boxsport fragte, merkte an: «Das Training für die hohen Anforderungen im Boxen ist besonders intensiv und vielseitig. So werden eine hohe Ausdauerkapazität ebenso wie Kraft, Schnelligkeit und Koordination gefördert.»

Die Trainingseffekte sind gross

Tatsächlich hat Boxen einen hohen Wert unter Fitness-Aspekten. Manche Experten gehen sogar so weit, von einem nahezu perfekten Ganzkörpertraining zu sprechen. Zwar wird der Oberkörper besonders beansprucht, aber im Rahmen einer Trainingseinheit werden alle Muskelgruppen gefordert. Kraft und Ausdauer werden gleichermassen geschult, in einem besonderen Masse wird die Schnellkraft gestärkt.

Wie kaum eine andere Sportart enthält das Boxen eine Hochintensitäts-Komponente. Diese Art von Training ist in den letzten Jahren äusserst populär geworden. Sie bezeichnet kurzes, hochintensives Training, das den Sportler an die Belastungsgrenze führen soll. Der Effekt ist erwiesenermassen hoch.

Diese Phasen ergeben sich im Boxen von selbst: Wer etwa das Schlagen einer Serie trainiert, der begibt sich in eine Trainingsphase hochintensiver Belastung. Allerdings bietet das Boxen noch mehr: Die Reaktionsfähigkeit wird geschult. Zudem ist der Grad an Koordination, den das Boxen erfordert, enorm hoch.

Manche Klubs betreiben eine Mischkalkulation

Die Qualitäten, die das Training bei korrekter Ausführung bergen kann, haben sich herumgesprochen. Mittlerweile gibt es nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Schweiz eine stattliche Anzahl Freizeitboxer. Das kann auch Angelo Gallina bestätigen, der in Basel einen Boxklub mit 400 Mitgliedern betreibt. Um diese kümmern sich 16 Trainer. Die überwältigende Mehrheit derjenigen, die dort trainieren, sind Freizeitsportler. Und sie sind es auch, die in der Summe den Betrieb finanzieren und den Wettkampf der 20 Amateure und 2 Profis, die im Klub aktiv sind, quersubventionieren.

Der Basler Coach Angelo Gallina. Youtube

Die Zahl derjenigen, die Boxen unter Fitness-Gesichtspunkten in der Schweiz betreiben, sei schwer zu ermitteln, sagt Gallina. Anders ist es in Deutschland, wo Freizeitsportler, die sich einem Amateurklub anschliessen, auch in der Mitgliederstatistik des nationalen Boxverbandes auftauchen. Der hat in Deutschland knapp 90 000 Mitglieder – auch dort besteht das Gros aus Freizeitsportlern.

Diese Athleten, sagt Gerd Oimann, der sich im deutschen Boxverband um die Finanzen kümmert, seien jene, die erst die Finanzierung des olympischen Boxens ermöglichten. Die Situation ist also mit jener in der Schweiz vergleichbar.

Allerdings ist die grosse Anzahl an Freizeitsportlern, die zuverlässig ihre Beiträge entrichten, nicht nur ein Segen. Denn unter ihnen, sagt Oimann, liessen sich kaum Wettkampfsportler rekrutieren. Die Talente, die an internationalen Turnieren erfolgreich sind und weiterhin die Sportförderung garantieren, müssen woanders gewonnen werden.

Sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz sind die Bestrebungen gross, die Sportart wieder populär zu machen. Dabei steht vor allem dem Amateurboxen mitunter auch das Image des Profiboxens im Wege, das unverändert als ein Sport der Halbwelt gilt. Damit aber haben die olympischen Boxer nichts zu tun, in Deutschland etwa ist die Zusammenarbeit mit dem Profilager kaum existent.

Der Mitgliederbeitrag für Jugendliche und Studenten ist moderat

Angelo Gallina aus Basel hat mittlerweile grosse Erfahrung darin, den Kreis der Mitglieder zu erweitern. Der Klub weise mit Jugendlichen, Studenten, Bankern oder Bauarbeitern ein gemischtes Publikum auf. Enorm wichtig sei es, Frauen anzusprechen. Ebenso gehe es darum, Jugendliche nicht nur zu erreichen, sondern sie auch dauerhaft im Klub zu halten.

Mit einem Jahresbeitrag von 300 Franken ist die finanzielle Hürde für sie bewusst tief gewählt. Wichtig sei allerdings auch, junge Sportler, die dabeibleiben wollten, nicht zu überfordern. So hat Gallina eine Trainingsgruppe für 18- bis 25-Jährige gebildet – weil gerade Teenager im Training mit erfahrenen Partnern schnell frustriert werden könnten.

Die Bemühungen zahlen sich aus. Vor dreissig Jahren, sagt Gallina, hätten vielleicht zehn Leute geboxt. «Und das war dann auch Boxen. Da kamst du ins Training und kriegtest einen auf die Nase, da wusstest du, ob es schmeckt oder nicht.»

Solche Szenen gebe es heute nicht mehr. Die Klubs gehen auf die Bedürfnisse der Kundschaft ein. Der Umgangston sei freundlich, es sei schliesslich «kein Militärcamp».

Der Kopfschutz hat vor allem eine Alibifunktion

Zudem können die Sportler wählen, in welcher Intensität sie das Training betreiben wollen. Gallina würde niemanden, der die sportlichen Qualitäten mitbringt, davon abhalten, ins Sparring, also in den Trainingswettkampf, einzusteigen. Allerdings verweist er darauf, dass jeder, der sich in Richtung Wettkampf orientiere, das Risiko von schädlichen Kopftreffern einkalkulieren müsse.

Im Training ist es bloss eine kleine Gruppe, die sich im Sparring leichten Kopftreffern aussetzt. Kopf- und Zahnschutz, sagt Gallina, böten nur Schutz vor äusseren Verletzungen. Da gehe es um eine Alibifunktion, die Schädigung der Hirnmasse lasse sich kaum vollständig verhindern. Bei den Freizeitsportlern sind Kopftreffer ohnehin tabu. Auf diese Weise, sagt Gallina, könne das Training sämtliche positiven Effekte entfalten. 

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