Berner Boxszene. Es fehlen die «Krieger» und Identifikationsfiguren"

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16.04.2020 12:01 Uhr
Adrian Ruch, BZ/Tagesanzeiger

In Bern, dem Zentrum der nationalen Szene, gibt es einen initiativen Veranstalter, aber keine Aushängeschilder mehr. Warum das so ist.

Auf den Karfreitag war im Berner Stadttheater ein Boxmeeting mit Profikämpfen angesetzt. Logischerweise verhinderte das Coronavirus dessen Durchführung, doch die Pandemie ist mittelfristig nicht das grösste Problem der regionalen Boxszene. Und diese ist auch national von erheblicher Bedeutung.

Alain Chervet bezeichnet die traditionelle Stephanstag-Veranstaltung im Kursaal «als grössten und besten Boxevent der Schweiz». Und Walter Rüegsegger, langjähriger Beobachter des Geschehens im Seilviereck, schrieb im April 2013 zum 100-Jahr-Jubiläum des Verbands in der NZZ über Chervets Onkel Fritz: «Der Berner wurde zu einer Zeit gross, als sich die Bundesstadt dank dem charismatischen und eigenwilligen Trainer Charly Bühler zum Mekka des Schweizer Boxsports entwickelte. Zwischen 1960 und 1990 war Boxen in Bern sehr populär, neben Chervet boxten mehrere Berner Profis um EM-Titel (Paul Chervet, Max Hebeisen, Enrico Scacchia).» Fliegengewichtler Chervet, liebevoll «Fritzli» genannt, war der Beste von allen. Journalist Rüegsegger ist noch heute überzeugt, dass dieser 1974 im Hallenstadion gegen den Thailänder Chartchai Chionoi von den Punktrichtern um den WM-Titel betrogen wurde.

Aufschwung mit Hartmann und Studer

Nach dem Rücktritt des mittlerweile verstorbenen Italo-Bümplizers Scacchia kam es zu einer Durstrecke, die der technisch herausragende, mit einer Bernerin verheiratete Algerier Riad Menasria beendete. Für einen richtigen Aufschwung sorgte dann ab 2004 Daniel Hartmann, indem er, wie er selber sagt, «Las Vegas nach Bern brachte». Er verstärkte das Showelement (Einmarsch der Protagonisten mit Musik und Fahne), sorgte trotz hoher Kosten für Fernsehübertragungen, erhöhte das sportliche Niveau und veranstaltete Titelkämpfe, wenn auch solche mit bescheidener Relevanz. Und vor allem holte er den Freiburger Yves Studer nach Bern, der sich zu einer Identifikationsfigur entwickelte. Der Mittelgewichtler pflegte nicht den elegantesten Stil, doch mit seinem Mut und seiner Kampfkraft begeisterte der Modellathlet das Publikum.

Zwei starke Frauen und die Klitschkos

Im Schatten Studers realisierten zwei Frauen Erfolge: Die Japan-Bernerin Aniya Seki holte sich WM-Titel unbedeutender Verbände, Nicole Boss brachte es bis zur Europameisterin. Die Leichtgewichtlerin aus Wohlen sorgte an den kleinen, aber feinen Events im Bümplizer Sternensaal jeweils für hervorragende Stimmung. Und dann machten die ukrainischen Brüder Witali (2009 im Stadion des SCB) und Wladimir Klitschko (2012 im Stadion von YB) mit WM-Fights im Schwergewicht die Bundesstadt jeweils für ein paar Tage zum Nabel der Boxwelt.

Tempi passati. Die Gegenwart sieht düster aus. Studer trat 2012 (ungeschlagen) zurück, Boss 2015, Seki 2019. Und Alain Chervet, kraft seines bekannten Namens und seiner guten Technik zuletzt das Berner Aushängeschild, wollte am Karfreitag zum letzten Mal als Profi in den Ring steigen. «Mir war schon letztes Jahr klar geworden: Es ist alles zu viel», sagt er. Kein Wunder, der 29-Jährige führt den Club Boxing Kings und ist seit letzter Woche Vater von drei Kindern – da ist an ein professionelles Training mit mindestens zwei Einheiten täglich nicht mehr zu denken.

Der unabhängige Veranstalter

Immerhin gibt es auch eine positive Nachricht. Mit Leander Strupler ist ein dynamischer, engagierter Boxfan als Veranstalter in die Fussstapfen Hartmanns getreten. «Ich spüre eine tiefe Faszination für diesen Sport, der unendliche Ressourcen an Dramen und Heldengeschichten bietet», sagt Strupler. Der Besitzer einer Kommunikationsagentur ist an keinen Club gebunden. Das ist in einer von Futterneid geprägten Szene ein nicht zu unterschätzender Vorteil. Der 36-Jährige hat «die Idee, den Boxsport in der Schweiz zu entwickeln». So schaffte er zum Beispiel die Nummerngirls ab und schuf bei einigen Events eine Symbiose von Kultur und Sport. Zudem lancierte er das viermal jährlich erscheinende Magazin «Boxen».

Der 36-Jährige verdient mit seinen Aktivitäten kein Geld, im Gegenteil: Er legt drauf. Und auch vor Rückschlägen ist er nicht gefeit. So wollte er den attraktiv kämpfenden Westschweizer Yoann Kongolo aufbauen, doch dieser wurde an einer Kickbox-Veranstaltung in Frankreich des Dopings überführt und in der Folge für vier Jahre gesperrt. Strupler sind die Aushängeschilder ausgegangen, das gibt er freimütig zu: «Im Moment besteht ein Vakuum.» Ans Aufgeben denkt er trotzdem nicht. «Das Vakuum kann auch eine Chance sein.»

Grosse Opfer, kleiner Verdienst

Doch wer taugt schon zur Identifikationsfigur? Christina Nigg, seit Anfang April Leistungssportchefin beim Verband, sagt: «In Bern und Umgebung steht derzeit kein potenzieller Überflieger in den Startlöchern.» Hartmann pflichtet der Ex-Weltmeisterin bei: «Ich sehe niemanden, der in die Bresche springen könnte.» Es gibt zwar in der Stadt und Agglomeration Bern zehn Clubs, und doch fehlt es an Nachwuchs. Beliebt ist vor allem das Fitnessboxen. «Das Kernproblem ist der Mangel an Talenten», hält Hartmann fest, «und die zweite Schwierigkeit ist, die wenigen Talente während mindestens sieben, acht Jahren mit pickelhartem Training bei der Stange zu halten.» Nigg formuliert es noch krasser: «Unsere Wohlstandsgesellschaft bringt keine Krieger mehr hervor.» Alain Chervet hat durchaus Verständnis dafür, dass Jugendliche trotz Begabung einen anderen Weg wählen: «In der Schweiz kannst du nicht vom Boxen leben – wer will da schon die nötigen Opfer bringen?»

Immerhin: National betrachtet gibt es mit Davide Faraci einen Profi mit ausgezeichneten Perspektiven. Der Aargauer, schon dreimal am Stephanstag-Meeting angetreten, hat all seine 15 Kämpfe gewonnen und nimmt im unabhängigen Box-Rec-Computer-Ranking im Halbschwergewicht global Position 36 ein. Der 28-jährige Doppelbürger kämpft allerdings mit italienischer Lizenz

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