Der mit dem Herzen boxte. Warum Graciano Rocchigiani für immer der beste Boxer Deutschlands bleiben wird.

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07.02.2024 09:12 Uhr
Weltwoche, Michael Bahnerth / JS

Die Publikation dieses Artikels auf swissboxing.ch erfolgt mit ausdrücklicher Genehmigung von Roger Köppel, Verleger und Chefredaktor der "Weltwoche". (JS)

Deutschland hatte einst einen Boxer, der hiess Graciano Rocchigiani. Er war einer der besten Boxer der Welt. «Rocky» nannten ihn seine Fans, «Grace» seine Freun- de. Rocky wurde 54 Jahre alt und zu Lebzeiten schon ein klein wenig unsterblich. Das Ende sei- nes Weges der Siege und Niederlagen war eine Strasse in Sizilien, die SS 121, die Palermo mit Ca- tania verbindet. In der Nähe von Belpasso gibt es eine Tankstelle mit einer Bar, das «Pappalardo». Dort soll er getrunken haben. Das konnte er fast so gut wie Boxen.

Ein Sprecher der örtlichen Polizei sagte später: «Wir glauben, das Rocchigiani sehr betrunken war und nicht mehr genau wusste, wo er lang- lief.» Es war 23.30 Uhr. Es gibt Quellen, die be- haupten, Rocky habe Streit gehabt mit seiner Lebensgefährtin, er soll – das war eine Schwä- che von ihm – herumgetobt und dann das Haus verlassen haben und irgendwie an dieser Tank- stellenbar gelandet sein.

Offenbar stand er auf von seinem Plastikstuhl neben dem Eingang, lief hinaus ins nächtliche Strassenlicht, ein paar Dutzend Meter nur. Ein Smart erfasste jenen Mann, von dem alle sagen, dass er die meiste Zeit seines Lebens auf der Über- holspur verbracht habe, und verpasste ihm den letzten Schlag. Wer da auf der Strasse sein Leben liess, war der Muhammad Ali von West-Berlin.

WM 1988, EM 1991, WM 1998

Trotz dem möglichen Streit mit seiner Lebens- partnerin starb er vermutlich so glücklich, wie es ihm möglich war, glücklich zu sein. Als er noch boxte, flog ihm das Glück um die Ohren, es streif- te ihn, manchmal traf es ihn, nur selten war es schmerzfrei. Das einzige tiefe Glück, das er lange kannte, war jenes eines K.o.-Schlags bei einem wichtigen Kampf. Nichts, auch ein wirklich guter Orgasmus, sagte er, könne da mithalten.

In Sizilien lebte er zusammen mit seiner letz- ten Partnerin Santina. 2013, schon fern der Box- ringe und für immer angeschlagen, hatte er die Sizilianerin in Hessen kennengelernt. Sie war auf Geschäftsreise für die elterliche Kaffeefabrik, er betrieb einen Boxklub, das «Kraftwerk». Er, der Sohn eines sardischen Eisenlegers und einer Berlinerin, zog auf die Insel, lernte endlich Italienisch. Es war vielleicht das erste Mal in seinem Leben, dass er ein wenig Ruhe vor sich selbst fand und sich nicht selbst verletzte.

Sie hatten zwei Kinder, zwei und drei Jahre alt, da war ein wenig Geld von ihrer Seite her, Rocky hatte keines mehr. Ein Jahr, bevor er Santina kennenlernte, meldet er sich beim Sozial- amt an. Rockys Mutter war froh, dass er «eine anständige Frau» gefunden hatte, seine übrig- Die Mauer steht noch, aber Rocky steht die Welt offen. 10 000 Mark bekommt er für den Titel. gebliebenen Freunde freuten sich für ihn, dass ihn das Leben nicht mehr verprügelte, sondern auch mal streichelte.

Es gab Streit um seine letzte Ruhestätte in Berlin auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof in Schöneberg, zwei Jahre lang. Seine Ex-Frau und grosse Liebe, Christine, wollte zusammen mit seiner Tochter Janina aus seiner allerersten Be- ziehung ein üppiges Grab, einen Boxring. Sein Bruder Ralf wollte es schlichter; das Üppige sieg- te. Der Grabstein ist schwarz, die Inschriften golden. Zuoberst sein Name in seinem Schriftzug, darunter «In liebevoller Erinnerung an unse- ren Weltmeister», dann seine Lebensspanne, 29.12.1963–1.10.2018. Und schliesslich seine grössten Erfolge: «WM 1988 EM 1991 WM 1998».

Als Janina im Januar 1985 in den Ring seines Lebens kam, hatte sie dort keinen Platz. Ihre Mutter auch nicht. Rocky wollte kämpfen, der beste Boxer der Welt werden und nicht Win- deln wechseln und einer Frau Liebe vorspielen. Rocky haute ab. Er boxte sich hoch und durch das Leben, er trainierte und trank und prügelte, er wurde zu einer kleinen Berliner Berühmtheit schon; noch ein paar Monate, und er würde Deut- scher Meister im Halbschwergewicht.

Rocky lernte seine Tochter erst kennen, als sie vierzehn Jahre alt war. Sie sitzt am Ring, schaut ihm beim Boxen zu, danach sprechen sie sich aus, ein Gespräch über Schicksalsschläge. Rocky sagte: «Uns beiden wurde klar: Die verlorenen Jahre sind weg. Niemand kann die Uhr zurück- drehen, auch wenn man es vielleicht möchte.» 11. März 1988; vielleicht der beste Tag im Leben von Rocky. Er wird zum ersten Mal Weltmeister. In der achten von fünfzehn Runden schon, technischer K.o., er ist jetzt IBF-Weltmeister im Supermittelgewicht. Die Mauer steht noch, aber Rocky steht die Welt offen. 10 000 Mark be- kommt er für den Titel. Er war dort, wo er das kleine Paradies verortete; genug Kohle, um zu leben, eine Eigentumswohnung, eine fette Karre und sonst keine Probleme.

Alles richtig gemacht: die Schule abgebrochen, die Lehre als Fensterreiniger geschmissen. Rocky war ein Boxkünstler geworden, unheimlich schnell, mit einer linken Faust, die fast schon Überschall konnte, er war zäh, von unglaub- lichem Instinkt, unkaputtbar irgendwie. Der Sieg katapultierte ihn aus der Unterschicht in das Licht der Halbwelt, zu all den Paradiesvögeln aus der Schattenwelt mit Vulkanrandleben und zehn Goldringen an acht Fingern.

Die Nacht vom 11. auf den 12. März war viel- leicht seine beste für immer. Da waren Nutten und Zuhälter und Champagner und Rocky, der Star. Erfolgreiche Titelverteidigungen würden kommen, noch mehr Zuhälter, noch mehr Nut- ten, noch mehr Champagner. Und noch stehen die Mauern, seine, die ihn von der Unendlichkeit der künstlichen Paradiese abgrenzt, und jene, die Deutschland trennt. Später, als beide Mau- ern gefallen sind, ist Deutschland verändert und Rocky auch. Deutschland entdeckt einen pro- gressiven Biedermeier, Rocky Joints und Kokain. Deutschland wächst, Rocky schrumpft. Da sind Verurteilungen, Gefängnis, Schläge unter die Gürtellinie. Dann kommt Christine, weil Kat- rin nicht gekommen ist.

Katrin ist seine Freundin, seit drei Jahren schon, Rocky glaubt, er liebe sie, zumindest manchmal. In der Nacht vor einem Kampf will Kathrin noch fernsehen im Schlafzimmer. «Eh, was soll der Scheiss?», fragt Rocky, schnappt sich die Fernbedienung und bereitet «dem Spuk ein Ende». Schweigen am andern Morgen. Rocky fährt zum Kampf in den Ballsaal des Hotels «Interconti». Für Katrin hat er einen Platz neben seinen Eltern reserviert. Sie kommt nicht. Er ge- winnt, verbringt die Nacht poppend mit Box- Groupies, hat ein schlechtes Gewissen am Mor- gen danach, geht nach Hause, Katrin ist weg, das Interieur der Wohnung auch.

Er taucht unter bei Kumpels, trinkt «Bier- chen» im Café «Journal», Christine zapft sie. Er zapft Christine an. Sie kommen bei seinem Trai- ner unter, Wolfgang Wilkes, sie lieben sich, tei- len sich einen Kopfhörer und hören gemeinsam Eros Ramazotti aus dem Walkman. Kurz darauf muss Rocky das erste Mal ins Gefängnis, U-Haft, zweieinhalb Jahre wegen Menschenhandels, und Zwang zur Prostitution wird ihm vorgeworfen, eine doofe Geschichte, der Richter vermutet Fluchtgefahr. 42 Tage sitzt Rocky ein, später wird er freigesprochen.

Innerhalb der Blase ihrer Liebe konsumie- ren sie sich gegenseitig, liegen tagelang im Bett, hören Ramazotti, vögeln, kiffen, koksen ge- legentlich und spielen Super Mario. Ausserhalb Weltwoche Nr. 05.24 Bild: Oliver Behrendt/Imago ihrer Blase verändert sich gerade Deutschland. Das Boxen auch. Bald würden die Zuhälter und die Nutten nicht mehr vorne am Ring sitzen, son- dern nur noch in der dritten Reihe.

Rocky ist gelangweilt. Hat seine Titel ver- teidigt, ohne dabei reich zu werden. Er ist Rocky, und dann doch nicht so ganz. Er mag nicht mehr. Lieber high sein ohne Schmerz und grossen Auf- wand. Später wird er sagen: «Ich kämpfe nur noch für Kohle.» Die Kohle ist im Anmarsch, sie kommt vom Fernsehsender RTL, der will Boxen gross rausbringen. Wenn das so ist, sagt sich Rocky, wenigstens reich.

Er hat den Glauben verloren an das Wesent- liche, an Fairness und Gerechtigkeit. Der Glau- be wurde ihm genommen am 5.Februar 1993. Er kämpfte um die Weltmeisterschaft im Super- mittelgewicht gegen den Briten Chris Eubank, der als beinahe unbesiegbare Maschine galt. Rocky liess das mit den Drogen, trainierte, brach- te sich in die Form seines Lebens und verlor, ob-wohl er der Bessere war. Das sollte sein Schicksal werden; der Bessere zu sein und trotzdem zu ver- lieren. Weil man den Sieg jenen zusprach, die mit dem System boxten und nicht gegen es.

Rocky hatte keinen Titel mehr, aber immer noch einen Namen und einen Ruf. Dann kam der Kampf der Lebensentwürfe, der Weltan- schauungen; Rocky gegen Henry Maske, Ost gegen West, der Gentleman gegen den Under- dog, das alte Deutschland gegen das neue, Stras- senköter gegen Zuchthund, RTL-Promis gegen Halbweltgrössen.

Rockys Hände waren vielleicht nie so gut wie an jenem Abend am 27.Mai 1995 in der West- falenhalle in Dortmund, dem Abend, der eine «Frage der Ehre» war. Er hatte die Ikone der Wiedervereinigung im Griff, Maske torkelte, aber er fiel nicht. Rocky hatte gewonnen, aber die Punktrichter entschieden dagegen. Der Sie- ger fand sich in der Niederlage wieder. Maske reagierte, wie Deutschland das auch gerne tut; er redete alles schön.

Kinder ohne Werdegang

Fünf Monate später kam es zur Revanche. Rocky hatte Rückenprobleme – ein Zwischenfall im Training drei Tage vor dem Kampf – und zehn Spritzen im Rückenmark, doch er wollte den Kampf nicht verschieben. Das hätte seiner Vor- stellung von Ehre und Moral einen Schlag ver- setzt. Rocky verlor. Ein Jahr später boxte er den Deutschpolen Dariusz Michalczewski, auch so ein Systemliebling, Rocky war der Bessere, aber der Ringrichter war nicht auf seiner Seite, warf Rocky eine Unsportlichkeit vor.

1998: Rocky wird nochmals Weltmeister, zu- mindest für ein paar Tage. Er hat den US-Ameri- kaner Michael Nunn geschlagen, deutlich. Rocky ist zum letzten Mal ganz oben. Dann wird ihm der Titel aberkannt aus dubiosen Gründen, Rocky prozessiert, und später, als sein Leben als Boxer schon fast vorbei ist, erhält er recht und fast fünf Millionen Dollar. Er hat einen hohen Preis bezahlt; Christine ist aus dem Ring ihrer Liebe ausgestiegen, nach zwölf Jahren. Er hatte keinen Kompass mehr. Er schlug nicht mehr seit damals, er wurde geschlagen.

So hoch, wie er gestiegen war, sank er hinunter, noch tiefer als von dort, woher er gekommen war, er, der beste Boxer, den Deutschland wohl je hervorgebracht hatte, Max Schmeling hin oder her.

Er trug es mit Fassung, hatte sein box gym, trainierte ein paar Talente, und er hatte eine Liebe in Sizilien. Rocky war wieder dort, wo er her- gekommen war, in einem kleinen Leben, der Unterschied war nur, dass er keine grossen Träu- me mehr hatte. 2005, als Rockys letzter Kampf zwei Jahre zurücklag, dichtete der Rapper Bus- hido, auch so ein Westberliner Kind, das in der grossen Welt keinen Platz fand: «Wir sind die Unterschicht, Kinder ohne Werdegang. Wir grei- fen nach den Sternen und sterben dann. So ist das Leben.“

 

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